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Stimmen zum Tod von Günter Grass

Susanne Spröer15. April 2015

Die Blechtrommel als "Big Bang" der Nachkriegsliteratur, der Nobelpreisträger ein Kunstprojekt: Günter Grass Tod hat Schriftsteller und Autoren weltweit bewegt. Eine Auswahl prominenter Stimmen.

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Polen Danzig Günter Grass Blechtrommel-Parade
Bild: picture-alliance/epa/Kraszewski

Mario Adorf, Jg. 1930, Schauspieler, Deutschland

"Es bleiben seine Werke, es bleibt sein Einfluss auf die Weltliteratur. Bei uns wird er ein bisschen als ein politischer Meckerer angesehen, aber es wird oft vergessen, welchen Einfluss er auf ganz große Schriftsteller in der Welt hatte. Es gibt eine ganze Reihe von Schriftstellern, die gesagt haben, ohne "Die Blechtrommel" hätte ich meine Bücher nicht schreiben können. Und das ist seine Rolle in der Welt, in der Weltliteratur als Nobelpreisträger. Das wird natürlich bleiben. Seine Art, sich einzumischen, wird man vermissen, obwohl sie oft kritisiert wurde."

Mario Vargas Llosa, Jg. 1936, Schriftsteller, Peru

"Günter Grass war meiner Meinung nach einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Vor allem sein Roman 'Die Blechtrommel', mit dem er berühmt geworden ist, ist eines der wichtigsten Bücher, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurden. Sowohl was die Qualität seiner Sprache angeht, als auch was die Symbolkraft der Geschichte betrifft, die auf eine einzigartige Art und Weise das Drama des Zweiten Weltkriegs reflektiert. Zu Recht hat Grass damit weltweite Anerkennung gefunden. Außerdem hat Günter Grass einen Typ Schriftsteller repräsentiert, den es immer seltener gibt: Der sich politisch engagierte und an öffentlichen Debatten aktiv teilgenommen hat."

Wladimir Kaminer, Jg. 1967, russisch-deutscher Schriftsteller, Deutschland

"Ich betrachte Günter Grass als Kunstprojekt. Er hat sich in allen möglichen Kunstarten versucht. Er hat nicht nur geschrieben, sondern auch als Bildhauer gearbeitet, als Dichter. Ich glaube, er hat so ziemlich alles gemacht, was ein Künstler machen kann - naja, vielleicht hat er nicht getanzt oder gesungen. Gemalt hat er auch. Und ich habe seine Bilder gesehen, seine Skulpturen. …"

Wladimir Kaminer
Bild: picture-alliance/ZB

"Natürlich wird er fehlen! Da ist eine ganze Generation von Autoren, die nach und nach geht. Das sind Autoren, die das Leben und die Geschichte eines Landes beschrieben, das nicht mehr existiert. Dieses Deutschland vor der Wiedervereinigung, dieses Deutschland des 20. Jahrhunderts wird letzten Endes nur in den Werken dieser Menschen bleiben und sie unsterblich machen."

Yiftach Ashkenazi, Jg. 1980, Literaturkritiker Tageszeitung "Haaretz", Israel

"Ich habe einige seiner Bücher gelesen, 'Die Blechtrommel' zum Beispiel, und auch eines seiner letzten Bücher, das, in dem er seine frühere Mitgliedschaft in der SS bekannt gab ("Beim Häuten der Zwiebel" 2006, Anm. d. Red.). Er ist ein sehr interessanter und kompromissloser Autor gewesen. Ich mag sein Werk, und ich mag tatsächlich auch seine Kritik an Israel, im Ernst. Seine Kritik war nicht sehr zutreffend, aber mir gefällt seine Haltung, dass man Israel kritisieren darf. Er war ein mutiger Schriftsteller."

Amichai Shalev, Jg. 1973, Schriftsteller und Literaturkritiker, Israel

"Ich erinnere mich, dass ich schon als Teenager seine Bücher gelesen habe. Später hat er dann enthüllt, dass er als Jugendlicher in der SS war. Das hat die öffentliche Meinung in Israel ein wenig verändert. Man findet nicht sehr viele seiner Bücher in den Regalen der Buchhandlungen. Ich selber verbinde emotional kaum etwas mit ihm. Aber 'Die Blechtrommel', dieses Buch liebe ich. Im Gedächtnis ist mir besonders die Szene, in der das Kind Oskar Matzerath in der Schule sitzt, und immer, nachdem der Lehrer etwas gesagt hat, die Trommel schlägt. Ich weiß gar nicht, warum, aber das hat mich sehr beeindruckt. Ich habe auch noch ein anderes gutes Buch von ihm gelesen, 'Im Krebsgang'. Aber, offen gesagt, wenn man von mir wissen wollte, wie ich seine Vergangenheit beurteile, dann finde ich, das ist etwas, was er mit sich selbst ausmachen musste."

Zeichnung von Günter Grass zum Roman "Die Blechtrommel"
Bild: picture-alliance/dpa/S. Puchner

Denis Scheck, Jg. 1964, Literaturkritiker, Deutschland

"Wir müssen uns ja doch, an einem solchen Tag, vor einer literarischen Lebensleistung verneigen, die wirklich nur vergleichbar ist mit der eines Thomas Mann im 20. Jahrhundert. Wir dürfen nicht vergessen, dass der erste Satz der Blechtrommel: 'Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.' - dass dieser Anfangssatz der Blechtrommel eben so etwas war wie der "Big Bang" für eine wirklich unabhängige deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier wurde tatsächlich mal Tabula rasa gemacht, ein Neuanfang. Auch ein ästhetischer Neuanfang, der dann zu einer unglaublichen literarischen Blüte führte und diese Blüte ist mit dem Namen Günter Grass verbunden."

Hans Christoph Buch, Jg. 1944 , Schriftsteller, Deutschland

"Er war immer ein streitbarer, politisch engagierter Mensch und Autor, der nie ein Blatt vor den Mund nahm. Damit ist er oft angeeckt, auch bei seinen Freunden. Unmut erregte er zum Beispiel, als er die israelische Atombombe mit der iranischen Atomrüstung in einen Topf warf und sozusagen Israel zum möglichen Verursacher eines Atomkrieges stempelte. Das wurde ihm sehr übel genommen. Andererseits war es natürlich ein großes Ereignis für Deutschland und für Grass persönlich, dass er den Nobelpreis bekam und in Stockholm für sein Lebenswerk geehrt wurde. Dann aber gab es auch wieder die Schattenseiten, dass nämlich kurz danach bekannt wurde, dass er als junger Mann mit siebzehn, also in sehr jungen Jahren, kurzzeitig als Soldat bei der Waffen-SS gedient hatte. Das passte nun gar nicht zu seinem antifaschistischen Engagement."

Jeffrey Eugenides, Jg. 1960 , Schriftsteller, USA

"Mein Roman 'Middlesex' entstand aus einer Tradition, deren Ende mir bewusst war. Das war das Buch 'Mitternachtskinder"' von Salman Rushdie. Rushdie hat sicher viel von Günter Grass und besonders von der 'Blechtrommel' gelernt. … Ich weiß nicht, worauf Grass zurückgriff. Schriftsteller erben immer Dinge von ihren Vorgängern. Ich glaube, er hat eine Menge von Kafka geerbt. Ich habe gemerkt, dass ich in einer langen Tradition arbeitete, die sich sozusagen irgendwo im Nebel verlor, und ich wusste nicht, wo sie herkam. Aber ich fühle mich von ihm beeinflusst, zwar irgendwie aus der Ferne, aber doch in bedeutsamer Weise."

"Seine bekanntesten Bücher in den USA sind 'Die Blechtrommel', 'Katz und Maus' und einige andere. Aber wenn man bei jemandem zuhause das Buch 'Der Butt' im Regal stehen sah, dann hatte man das Gefühl, das hier ist europäische Literatur, die Geschichte aufarbeitet, die sozusagen die Sünden der Väter aufarbeitet...Ich glaube, er war in diesem Sinne ein Beispiel für amerikanische Autoren, dass sie, wenn sie wirklich ernsthafte Schriftsteller sein wollten, sich ihre Nation, ihr Land und seine Politik ansehen sollten, dass sie so anti-patriotisch und so anspruchsvoll wie möglich in ihren Beschreibungen und der Betrachtung der amerikanischen Geschichte sein sollten."

Berlinale 2007 Volker Schlöndorf
Regisseur Volker Schlöndorf verfilmte den Erfolgsroman "Die Blechtrommel"Bild: picture-alliance/dpa

Volker Schlöndorff, Regisseur der 'Blechtrommel', Deutschland

"Warum tut diese Nachricht so weh? Millionen werden diesen Verlust ebenso empfinden, die 'schweigenden Leser', die ihm über ein halbes Jahrhundert treu gewesen sind. Persönlich ist es zuerst wegen dieses großen Herzens, das er hatte und das ich wohl auch habe. Und aus denen heraus wir uns oft über das ausgetauscht haben, worüber man sonst nicht spricht – außer eben mit einem solchen Freund. Sein großes Herz, aus seinen Texten sprach es, seine vielen Kinder, Enkel, seine Frauen, seine Freunde kannten es, in Liebe wie im Zorn. Es gab ihm etwas Allmächtiges, sogar in seinen eigenen Augen." (in der NZZ)

Adam Zagajewski, Jg. 1945, Schriftsteller, Polen

"Der Roman 'Die Blechtrommel' war das erste deutsche Buch, das ich in Originalsprache las – mühsam, sehr langsam, mit dem Wörterbuch in der Hand, mit vielen Pausen. Und danach 'Katz und Maus'. Diese zwei Bücher habe ich mit Entzücken gelesen. Es gab in ihnen eine boshafte Magie, etwas halb Skurriles, halb Poetisches, Unerhörtes – und doch etwas, was in die skurrile Geschichte der beschriebenen Zeit gut passte. Ich wusste von Günter Grass‘ Interesse für das inzwischen polnisch gewordene Danzig/Gdansk, von seinen politischen Stellungnahmen, auch von seinen Freundschaften mit den polnischen Schriftstellern aus der Danziger Gegend und nicht nur von da. Das war für uns, damals junge Autoren, wichtig, ermutigend. Es war auch eine der ersten Brücken in den komplizierten deutsch-polnischen Beziehungen der Nachkriegszeit." (in der NZZ)

Dieter Wellershoff, Jg. 1925, Schriftsteller, Deutschland

Deutschland Portrait Dieter Wellershoff Schriftsteller
Bild: DW/H. Mund

"Grass war eine markante Person. Das hängt auch damit zusammen, dass seine baltische Ausdruckweise, die Sprache in seinen Büchern etwas völlig Neues war. Er ist ja als junger Schriftsteller sehr früh bemerkt und anerkannt worden. Für die Leute, also auch für die älteren Kollegen, war er wirklich etwas Neues. Die hatten das Gefühl: Donnerwetter, hier weht ja auf einmal ein anderer Wind. Und eine andere, modernere Sprache war mit der "Blechtrommel" da, ein anderer Lebensatem. Das vertrat Grass durchaus selbstbewusst.

Und es war nicht eine Mode, es war seine Existenz. Grass hatte einen Blick auch für andere Schreibweisen, wenn sie im großen Ganzen in sein Weltbild passten und wenn sie ihm als Stimme seiner Generation erschienen. Der Wert seiner frühen Literatur lag darin, dass sich hier eine neue Generation von deutschen Schriftstellern meldete und vorstellte, die in ihm einen neuen Repräsentanten hatte - für die Werte der Unangepasstheit, der Direktheit, des Geradeaus-Denkens."