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Streit ums Schreibenlernen

Svenja Üing12. September 2013

Viele Kinder, die jetzt in die Schule kommen, lernen in Deutschland Schreiben nach ihrem Gehör - mit Hilfe einer Anlauttabelle. Vor 20 Jahren wurde diese Methode eingeführt. Experten streiten über die Vor- und Nachteile.

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Kinder der Grundschule Harmonie in Eitorf, die schreiben lernen (Foto: Grundschule Harmonie)
Bild: Grundschule Harmonie

Draußen scheint die Sonne, doch drinnen im Klassenzimmer ist es angenehm kühl. Dort sitzen Paul und Dennis gemeinsam vor dem Computer. Noch ist der Bildschirm weiß, nur die Überschrift haben die beiden neunjährigen Schüler schon formuliert: "König Gagaga" soll ihre Geschichte heißen. Die wollen sie jetzt gemeinsam erfinden und aufschreiben.

Schreiben können Dennis und Paul im Prinzip schon seit dem ersten Schultag. Das einzige, was sie anfangs dazu benötigten, war ihr Gehör - und die sogenannte Anlauttabelle. Dort sind die wichtigsten Laute der deutschen Sprache notiert - mit dem entsprechenden Bild daneben. Das "F" steht neben dem "Fenster", das "U" neben der "Uhr".

In der Tradition von Jürgen Reichen

Kind der Grundschule Harmonie in Eitorf mit einer Anlauttabelle (Foto: Grundschule Harmonie)
Umstritten: Schreibenlernen mit der AnlauttabelleBild: Grundschule Harmonie

Paul und Dennis besuchen die dritte Klasse der Grundschule "Harmonie" in Eitorf bei Bonn, sie benötigen die Anlauttabelle nicht mehr. Die Methode, mit der die beiden Schreiben gelernt haben, wird in Deutschland häufig "Freies Schreiben" genannt. Sie geht auf das Konzept des verstorbenen Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen zurück und wurde in den vergangenen 20 Jahren von anderen Didaktikern massentauglich gemacht, allen voran Hans Brügelmann, emeritierter Professor für Grundschulpädagogik.

Seit den 1990ern unterrichten viele Schulen in Deutschland das "Freie Schreiben", und sie ernten dafür teils heftige Kritik: Wenn Kinder nur nach ihrem Gehör schreiben lernten, bekämen sie später große Probleme mit der Orthografie. Der Blick in die Schreibhefte von Schulanfängern scheint den Kritikern Recht zu geben. Sätze wie "Dea hont schbilt im gatn" sind selbst für motivierte Eltern kaum zu entziffern.

Kritiker prophezeien "fatale Folgen"

"Das Problem ist, dass es für Kinder extrem schwierig ist, Wörter in die richtigen Laute zu zerlegen", sagt Wilfried Metze. Der ehemalige Berliner Grundschullehrer gehört seit Jahren zu den Kritikern des "Freien Schreibens". "Die Kinder erwerben im Laufe der Zeit die Vorstellung, dass wir eine Lautschrift hätten, dass wir also genau so schreiben, wie wir hören", so Metze. Und das wirke sich dann fatal auf die Rechtschreibung aus.

Kinder der Grundschule Harmonie in Eitorf, die schreiben lernen (Foto: Grundschule Harmonie)
An der Grundschule "Harmonie" wird das "Freie Schreiben" ebenso gelehrt wie die OrthografieregelnBild: Grundschule Harmonie

Walter Hövel ist diese Kritik nur allzu bekannt. Der Leiter der Grundschule "Harmonie" in Eitorf hat das "Freie Schreiben" an seiner reformpädagogischen Schule aus Überzeugung etabliert. "Der Ansatz der Demokratie ist das Lernen", so Hövel. "Das heißt, ich muss Methoden finden, bei denen die Menschen begreifen, dass sie sich selbst etwas beibringen können."

Kinder können "locker mithalten"

Walter Hövel räumt ein, dass seine Schülerinnen und Schüler in den ersten ein, zwei Jahren noch Rechtschreibdefizite hätten. "Aber nach vier oder fünf Jahren sind sie den anderen überlegen, weil sie jeweils ihre eigene Sprache schreiben können", hält Hövel dagegen. Dann könnten seine Schüler locker mit denen mithalten, die traditionell schreiben gelernt hätten, also etwa mit Lese-Schreib-Lehrgängen, in denen Kinder zunächst die einzelnen Buchstaben und Silben der deutschen Sprache genau kennenlernen und erst etwas später mit dem Schreiben von Wörtern, Sätzen und Geschichten beginnen.

Doch was ist nun der bessere Weg zum Schreibenlernen? Eine einfache Antwort scheint es darauf nicht zu geben. Una Röhr-Sendlmeier leitet die Abteilung für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie an der Universität Bonn und beschäftigt sich seit Jahren wissenschaftlich mit dem Streit um das "Freie Schreiben". "Es ist ein ganz großes Manko, dass in Deutschland die meisten Didaktiken kaum und zum Teil gar nicht erforscht worden sind", sagt die Psychologin. Die Lehrwerke würden aber dennoch im Unterricht eingesetzt. Immer wieder erhält die Professorin E-Mails besorgter Eltern, die um die Rechtschreibung ihrer Kinder bangen.

"Schwächere Kinder benötigen Regeln"

Im Prinzip hat Una Röhr-Sendlmeier nichts einzuwenden gegen die Anlauttabelle. Lernstarke Kinder aus bildungsnahen Familien, denen im Vorschulalter häufig vorgelesen wurde, könnten damit schon sehr früh eigene Geschichten schreiben. Für schwächere Kinder hingegen könne die Methode ein großes Problem darstellen, besonders wenn ihnen das Vorwissen über die Struktur der deutschen Sprache fehle. Dazu können zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund zählen, für die das Deutsche nicht die Muttersprache ist. "Ich rate deshalb unbedingt, gerade bei schwächeren Kindern mit einem regelgeleiteten Unterricht zu beginnen und sie erst später frei schreiben zu lassen", sagt Una Röhr-Sendlmeier.

Kinder der Grundschule Harmonie in Eitorf, die schreiben lernen (Foto: Grundschule Harmonie)
Die Kinder lernen miteinander - und voneinanderBild: Grundschule Harmonie

Die meisten Lehrer in Deutschland kombinierten heute ohnehin unterschiedliche Methoden, so Röhr-Sendlmeier. Sie verwenden die Anlauttabelle und lehren selbstverständlich auch die Orthografieregeln. "Wenn 'Freies Schreiben' flankiert wird mit der Vermittlung von Regeln, dann versagen die Kinder auch nicht zwingend in der Schule", so Una Röhr-Sendmeier. Aber beides sei eben wichtig.

An der Grundschule "Harmonie" wird auf beides Wert gelegt, auf die Anlauttabelle und die Rechtschreibregeln. Der fehlerfreien Geschichte vom "König Gagaga" stand am Ende etwas ganz anderes im Wege: das schöne Wetter. Paul und Dennis sind nach dem ersten Kapitel nach draußen gegangen, zum Fußballspielen.