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Politik

Stresstest für Brasiliens Demokratie

Astrid Prange de Oliveira | Fernando Caulyt
6. Juni 2017

Die Tage von Michel Temer als brasilianischer Präsident scheinen gezählt. Korruptionsvorwürfe untergraben die Glaubwürdigkeit seiner Regierung. Nun könnte ein Urteil des Obersten Wahlgerichts seinen Abgang beschleunigen.

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Proteste gegen Brasiliens Präsident Michel Temer in Rio de Janeiro
Bild: Reuters/J. Guimaraes

Zitterpartie in Brasilia: Wird nach der Amtsenthebung von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 nun auch ihr ehemaliger Vize und Nachfolger aus dem Präsidentenpalast ausziehen müssen? Wird die gemeinsame Kandidatur der beiden Politiker 2014 im Nachhinein für ungültig erklärt, weil diese mit nicht deklarierten Spenden ihren Wahlkampf finanziert haben sollen?

Genau diese Frage müssen nun die sieben Richter des Obersten brasilianischen Wahlgerichtes (TSE) beantworten. Ihr Urteil stellt die brasilianische Demokratie auf eine harte Probe. Denn der Prozess, der am Dienstag beginnt, findet in einem politisch äußerst heiklen Augenblick statt. Die  Korruptionsermittlungen im Fall "Lava Jato", die seit vier Jahren das Land erschüttern, sind mittlerweile bei Präsident Temer persönlich angekommen.

Verfassung wirft Fragen auf

Brasiliens ehemaliger Präsident Fernando Henrique Cardoso appellierte in einem Gastbeitrag in der spanischen Tageszeitung "El País" an die Verfassungstreue der Volksvertreter. "Je größer die Unsicherheit, desto wichtiger ist die Verfassungstreue." Die Politiker müssten zur Kenntnis nehmen, dass die Bevölkerung die systematische Korruption von Parteien, Regierung und Konzernen einfach nicht mehr aushalte, schrieb Cardoso.

Regierungskrise in Brasilien

Seit dem Wahlkampf 2014 lehrt die brasilianische Justiz Politiker und Unternehmer das Fürchten. Zu Beginn konzentrierten sich die Ermittlungen unter dem Namen "Lava Jato", deutsch: "Waschstraße", auf die Schmiergeldzahlungen von großen Konzernen an Vertreter der regierenden Arbeiterpartei PT. Mittlerweile erstrecken sie sich auf Angehörige aller politischen Parteien. 

Die rigorose Aufklärung durch die brasilianische Justiz, deren Richter und Staatsanwälte in Brasilien wie Popstars gefeiert werden, ist neu. Da im Zuge der 2013 eingeführten Kronzeugenregelung viele Angeklagte bereit sind, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, um ihr Strafmaß zu verringern, wurden langjährige Korruptionskanäle offengelegt.

Brasilien Richter Sergio Moro
Macht Jagd auf korrupte Politiker und Unternehmer: Richter Sergio Moro Bild: Imago

Manager hinter Gittern

Insgesamt wurden bis jetzt 82 Personen angeklagt und elf davon bereits rechtskräftig verurteilt. Zu den Politikern, die bereits ihre Posten räumen mussten, gehören unter anderem der ehemalige Präsident des brasilianischen Kongresses Eduardo Cunha, der Chef des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht, Marcelo Odebrecht, sowie neun Minister der Regierung Temer. Auch gegen Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva wird ermittelt.

Im Zuge der Ermittlungen wächst auch der Druck auf Präsident Temer. Er soll Schweigegeldzahlungen an den inhaftierten ehemaligen Parlamentspräsidenten Cunha zugestimmt haben. Der Präsident selbst soll nach Angaben des Unternehmers Joesley Batista, Chef von Brasiliens größtem Fleischproduzenten JBS, 2014 Schmiergeldzahlungen in Höhe von 4,6 Millionen Dollar erhalten haben.

Temers Trumph

Zu den laufenden Korruptionsermittlungen kommt nun noch der Prozess am Obersten Wahlgericht. "Temer ist noch an der Macht, weil kein Konsens darüber herrscht, wer ihn ersetzen könnte. Das ist sein Trumpf", meint Brasilien-Experte Oliver Stuenkel, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Fundação Getúlio Vargas in São Paulo.

Brasilien Präsident Dilma Rousseff und Michel Temer Vizepräsident
Einst im Wahlkampf vereint, nun gemeinsam vor dem Obersten Wahlgericht: Dilma Rousseff und Michel TemerBild: picture alliance/dpa/F. Bizerra Jr

Stuenkel wagt eine Prognose: "Der TSE ist auch für die politische Stabilität des Landes verantwortlich. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Obersten Richter die Kandidatur von Rousseff und Temer für ungültig erklären, wenn die demokratischen Institutionen dadurch gefährdet würden."

Doch angekommen, dieser Fall träte ein, würde Brasilien nach zwei Amtsenthebungen in einem Zeitraum von nur zehn Monaten ins politische Chaos abgleiten? Für Experte Oliver Stuenkel ist dies nicht ausgeschlossen: "Es wäre das erste Mal seit dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien, dass ein Vize-Präsident die Macht übernimmt und dann sein Amt verliert", erklärt er. "Dies wäre eine große Belastungsprobe für die Verfassung."

Direkte oder indirekte Neuwahlen?

Die brasilianische Verfassung sieht vor, dass nach einer Amtsenthebung des Präsidenten der Vorsitzende des Kongresses die Regierungsgeschäfte übernimmt, wenn es keinen Vize-Präsidenten gibt, der nachrücken kann.

Der Präsident des Kongresses muss direkte oder indirekte Neuwahlen einberufen. Wenn die nächste reguläre Wahl in weniger als zwei Jahren ansteht, wird der Präsident von den Abgeordneten des Parlaments gewählt. Ist die Frist länger als zwei Jahre, wird er direkt vom Volk gewählt.

Auf den ersten Blick scheint damit der Weg aus der Krise vorgezeichnet: Die nächsten regulären Wahlen stehen im Oktober 2018 an, bis dahin bliebe somit entweder Temer im Regierungspalast oder der Kongress müsste seinen Nachfolger bestimmen.

Brasilien der hauptsitz von Odebrecht in Sao Paulo
Schmierte nicht nur Politiker in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika: Baukonzern OdebrechtBild: Reuters/P. Whitaker

Wahlkampf hat begonnen

Doch in der politischen Praxis könnte sich die Umsetzung dieser Vorgaben als schwierig erweisen. "Verfassungsrechtlich wären indirekte Wahlen korrekt, doch die Legitimität der Regierung würde dadurch noch geringer als es jetzt schon bei Temer der Fall ist", gibt Stuenkel zu bedenken. "Die Mehrheit der Bevölkerung will direkte Wahlen, aber dafür müsste die Verfassung geändert werden."

Unabhängig vom Urteil des Obersten Wahlgerichtes, das frühestens am Freitag gefällt wird, sich wegen möglicher Einsprüche aber auch über Monate hinziehen kann, laufen sich die Kandidaten für die kommenden Präsidentschaftswahlen schon jetzt warm. Der Wahlkampf in den sozialen Medien hat bereits begonnen.

Zu den Favoriten in den Meinungsumfragen gehört die ehemalige Umweltministerin Marina Silva, die bereits 2010 und 2014 für das Präsidentenamt kandidierte. "Die Regierung Temer hat den politischen Rückhalt verloren. Wir brauchen Neuwahlen", erklärte sie gegenüber dem Internetportal  "Infomoney". "Wir haben keinen Grund, uns vor der souveränen Entscheidung der Gesellschaft zu fürchten."