Deutsche Bilder vom Überfall auf Polen
28. August 2019"Das sind die Früchte der polnischen Politik" - dieser zynische Satz steht in roter Schreibschrift neben den Fotos von ausgebombten Häusern und einer zerstörten Brücke über den Fluss Pilica. Die Bilder stammen aus einem Album des damals 19-jährigen Soldaten Otto Hardick, der im September 1939 beim Überfall auf Polen dabei war. Motive und Kommentare lassen keine Zweifel daran aufkommen, mit welcher Geisteshaltung der junge Deutsche in das Nachbarland einmarschierte.
Jahrelange Propaganda seit der Machtübernahme durch die Nazis 1933 hatte im Bewusstsein der Wehrmacht die gewünschte Wirkung erzielt: Deutsche Soldaten traten als Herrenmenschen in Erscheinung, Polen wurden als minderwertig diffamiert - erst recht, wenn es sich um Juden handelte. Diese Art der Erniedrigung ist immer wieder anzutreffen in der virtuellen Ausstellung "Stumme Zeugnisse 1939", die am 1. September online gehen wird.
Hemmungslose Hobbyfotografen
Das Projekt ist eine Kooperation des Studiengangs Public History an der Freien Universität Berlin, der Gedenk- und Bildungsstätte "Haus der Wannsee-Konferenz" und des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Ein Jahr lang recherchierte das von der Historikerin Svea Hammerle geleitete Team und begab sich auf die Suche nach Originaldokumenten - Fotos, Tagebüchern, Briefen. Nach Aufrufen in Zeitungen und sozialen Medien wurden allein über 1000 Fotos eingereicht.
Tote deutsche Soldaten sind nie zu sehen, lediglich Bilder von Kriegsgräbern. Dass der Überfall auf Polen auch Verluste auf Seiten der Wehrmacht mit sich brachte, wurde also keineswegs ausgeblendet. Aber die Opfer in den eigenen Reihen sind als Heldentod inszeniert: der unbekannte Soldat, der sein Leben für Volk und Führer gibt. Bei gefallenen oder ermordeten Polen hingegen hatten die Hobbyfotografen keine Hemmungen, sie wie erlegte Tiere bei einer Jagd abzulichten.
Gesichter, die man einer konkreten Person zuordnen könnte, sind in der Online-Ausstellung verpixelt. Aus Respekt vor den Toten und "weil wir keine Ahnung haben, was mit den Bildern hinterher passiert", begründet Svea Hammerle die Zurückhaltung. So soll verhindert werden, dass Neonazis unzensierte Fotos von Kriegsopfern wie Trophäen im Internet weiterverbreiten oder auf andere Weise missbrauchen.
Die deutsche Perspektive dominiert
Wie sehr schon der Überfall auf Polen Merkmale eines Vernichtungskriegs hatte, ist nach Svea Hammerles Einschätzung unübersehbar: "Massive Ausschreitungen gegen die zivile Bevölkerung, Bombardierungen von Ortschaften und Städten, Massaker an polnischen Jüdinnen und Juden". Das alles beginne nicht erst im Krieg gegen die Sowjetunion 1941. Vor allem in den Tagebüchern werde beschrieben, "dass wieder soundso viele jüdische Menschen erschossen wurden oder dass ein Dorf angezündet wurde, weil dort angeblich Heckenschützen aktiv gewesen seien".
Ein wichtiges Ziel hat das Projekt "Stumme Zeugnisse 1939" verfehlt: das Grauen des deutschen Überfalls auf sein östliches Nachbarland auch aus polnischer Perspektive zu dokumentieren. Der Aufruf, private Fotos zur Verfügung zu stellen, verhallte ohne Echo. Svea Hammerle und der Direktor der Gedenkstätte "Haus der Wannsee-Konferenz, Hans-Christian Jasch, bedauern das sehr. Wahrscheinlich sei die Hemmschwelle für Polen zu groß gewesen, "solche Dokumente nach Deutschland zu schicken", vermutet Jasch. Ein zweiter Grund: Nur wenige polnische Soldaten hatten überhaupt eine Kamera, während Fotografieren in der Wehrmacht "Volkssport" gewesen sei.
Polnische Historiker waren beeindruckt
Dass es in Polen vergleichsweise wenige Fotos vom Überfall der Wehrmacht gibt, deckt sich auch mit den Erkenntnissen des Historikers Stefan Troebst. Sein Großvater Woldemar Troebst war als Kommandeur einer motorisierten Pioniereinheit am Überfall der Deutschen beteiligt. Viele Jahre nach seinem Tod fand der Enkel 1996 im Nachlass ein Fotoalbum und schickte Historiker-Kollegen in Polen Kopien. Die seien "schwer beeindruckt" gewesen von der Fülle des Materials.
Davon profitiert nun auch die Online-Ausstellung "Stumme Zeugnisse 1939", denn Troebst ist einer der Leihgeber. Bedenken, die teilweise brutalen und erniedrigenden Fotos aus Familienbesitz ins Internet zu stellen, hatte er keine. Als Historiker sieht er das ganz pragmatisch: Man wünsche sich, "dass so viele private historische Quellen wie möglich" zur Verfügung stehen. Der Nachlass seines Großvaters, darunter auch persönliche Briefe, veränderte aber den Blick des Enkels auf die eigene Familiengeschichte.
Frühe Zweifel eines überzeugten Nazis
Für die Großeltern, überzeugte Nationalsozialisten, sei der Verlauf des Überfalls auf Polen ein "Schock" gewesen. Der entpuppte sich nämlich nicht, wie erwartet, als "Spaziergang". Die Begeisterung für das NS-Regime habe da einen "Knacks" bekommen - weil der Wehrmacht-Soldat Woldemar Troebst anscheinend geglaubt hatte, sich auf ein ungefährliches Abenteuer einzulassen. Dabei war es der Auftakt eines Vernichtungskrieges, der erst 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches endete.
Polen verlor mit 5,7 Millionen Toten ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung, die allermeisten Opfer waren Zivilisten. In der deutschen Erinnerung an die Verbrechen auch der Wehrmacht kam dieses grausame Kapitel lange Zeit zu kurz. Das Projekt "Stumme Zeugnisse 1939" soll dazu beitragen, den Blick zu weiten und zu schärfen. Es ist auch Teil des Buches "80 Jahre danach", das Svea Hammerle und Hans-Christian Jasch vom "Haus der Wannsee-Konferenz" mit ihrem Kollegen Stephan Lehnstaedt herausgegeben haben.
In Polen tobt ein Streit über die Darstellung des Krieges
Ein Kapitel handelt von der Kriegserinnerung und -wahrnehmung in Polen. Der Autor Paweł Machcewicz war Gründungsdirektor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig. 2017 wurde er nach Streitigkeiten mit der Regierungspartei "Prawo i Sprawiedliwość" (Recht und Gerechtigkeit) entlassen. Den Machthabern war das Ausstellungskonzept anscheinend zu wenig heroisch, denn Machcewicz hatte einen Schwerpunkt auf die Erfahrungen der Zivilbevölkerung gelegt - der Menschen also, die mit Abstand am stärksten unter dem Überfall der Wehrmacht auf Polen gelitten haben. Deren Leiden haben viele deutsche Soldaten in der Pose des Eroberers fotografiert.