"Stuttgart 21"-Gegner mobilisieren die Massen
1. Oktober 2010Die Lage auf dem Baufeld für das Bahnprojekt "Stuttgart 21" blieb auch am Freitag (01.10.2010) angespannt. Die Gegner des Bahnhofsneubaus, die sich in der Stadt versammelten, protestierten nicht nur gegen das Milliardenprojekt, sondern auch gegen den Polizeieinsatz vom Donnerstag. Nach Veranstalterangaben nahmen an der abendlichen Demonstration bis zu 100.000 Menschen teil.
Mit Rufen wie "Schämt Euch!" und "Mappus weg" reagierten die Gegner des 4,1 Milliarden Euro teuren Projekts auf den Polizeieinsatz vom Donnerstag, bei dem nach unterschiedlichen Angaben zwischen 130 und 400 Menschen verletzt worden waren. Die Demonstration stand nach der Gewalteskalation vom Vortag unter einem friedlichen Motto. Mehrere Teilnehmer riefen zur Ruhe auf.
Rufe nach Aufklärung
In der Nacht zum Freitag waren in dem Schlossgarten die ersten 25 von ingesamt 300 Bäumen für ein Baugelände südlich des denkmalgeschützten Hauptbahnhofs gefällt worden. Zuvor war die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Pfefferspray gegen Demonstranten im Stuttgarter Schlossgarten vorgegangen, die rund um den Hauptbahnhof schon seit Wochen gegen das Bauvorhaben protestieren. Insgesamt 26 Demonstranten im Alter zwischen 15 und 68 Jahren wurden laut Polizei vorübergehend festgenommen. Jetzt werden die Rufe nach einer Aufklärung der Vorgänge immer lauter.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus war am Freitag bemüht, die Wogen zu glätten. "Die Bilder von gestern dürfen sich nicht wiederholen", appellierte der CDU-Politiker. Es dürfe keine weitere Eskalation, keine weiteren Verletzten bei Demonstranten und Polizisten geben. Mappus rief die Projektgegner auf, den Gesprächsfaden mit den Befürwortern wieder aufzunehmen.
Das Aktionsbündnis gegen das Bahnprojekt lehnt ein Gespräch mit Mappus aber derzeit kategorisch ab. "Mit Falschspielern verhandeln wir nicht", hieß es. Das Vorgehen der Polizei am Donnerstag gegen die "Stuttgart 21"-Gegner habe Mappus zu verantworten.
Gysi droht mit Untersuchungsausschuss
Am Freitag kam auf Antrag der Linken der Innenausschuss des Bundestags zu einer Sondersitzung zusammen, um über die umstrittene Polizeiaktion zu beraten. Die Forderung der Grünen nach einer öffentlichen Parlamentsdebatte noch im Laufe des Tages scheiterte hingegen. Vertreter von SPD, Linken und Grünen warfen der Regierung vor, die Vorgänge in Stuttgart zu verharmlosen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geriet dabei ins Zentrum der Kritik.
Der Fraktionschef der Links-Partei, Gregor Gysi, warf Merkel Untätigkeit vor. Er erinnerte an ihre Äußerungen, wonach die Landtagswahl in Baden-Württemberg im kommenden Jahr eine Abstimmung über das umstrittene Projekt sein solle. Wenn sie sich selber ernst nehme, müsse sie einen Baustopp durchsetzen, sagte Gysi und fügte hinzu: "Denn wenn es ein Volksentscheid sein soll, muss auch noch was zu entscheiden sein."
Gysi drohte der Koalition mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Er wolle wissen, wer die Strategieänderung gegenüber den Protestierern veranlasst habe, sagte er.
Auch die Grünen bekräftigten ihre Forderung nach einem sofortigen Baustopp. Die Parteivorsitzenden der Grünen, Claudia Roth und Cem Özdemir, nannten es "einen bemerkenswerten Vorgang", dass neben dem baden-württembergischen Innenminister Heribert Rech auch die Kanzlerin das Vorgehen der Polizei "ohne Wenn und Aber" verteidige und zugleich versuche, "die friedlich demonstrierenden Menschen zu kriminalisieren". Sie riefen zu bundesweiten Protesten gegen das umstrittene Bahnprojekt auf.
CDU weist Vorwürfe zurück
Die Bundes-CDU wies die Vorwürfe vehement zurück. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe warf den Grünen "völlig verantwortungsloses" Handeln vor. "Aus zahlreichen Verletzten mit abstrusen Vorwürfen an die Bundeskanzlerin politischen Vorteil ziehen zu wollen, ist zutiefst schäbig", kritisierte Gröhe. Zugleich rief er die Spitzen der Grünen dazu auf, die Situation in Stuttgart "nicht weiter aufzuheizen".
Auch Regierungssprecher Steffen Seibert wies die Unterstellung, Merkel habe zur Eskalation beigetragen, zurück. Die Kanzlerin habe große Sympathie für Bürger, die ihr Protestrecht wahrnähmen. Sie habe auch aber auch große Sympathie für das Bahnprojekt, so Seibert.
Die Deutsche Bahn lehnt auch nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen bei den Protesten gegen "Stuttgart 21" einen Baustopp ab. Bahnchef Rüdiger Grube bestätigte erneut, dass Deutschlands derzeit größtes Bahnprojekt realisiert werde. Er sicherte aber zu, dass bis Herbst 2011 keine weiteren Bäume gefällt würden.
Unterdessen bricht sich der Zorn über "Stuttgart 21" auch im Internet Bahn. Auf Twitter, Facebook und in diversen Blogs wird seit Tagen kommentiert und informiert. Dort machen die Menschen ihrem Unmut über das Milliarden-Bahnprojekt Luft, verlinken Videos vom harten Einsatz der Polizei und rufen zu weiteren Protesten in vielen deutschen Städten auf. Manche suchen im Netz sogar nach Mitfahrgelegenheiten zu den Demonstrationen.
Das Projekt "Stuttgart 21" sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Die Bahn rechnet mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro. Kritiker befürchten eine Kostensteigerung auf bis zu 18,7 Milliarden Euro.
Autor: Hajo Felten (rtr, dpa, dapd, afp)
Redaktion: Ursula Kissel/Frank Wörner