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GesellschaftDeutschland

Substitution: Ein Weg aus der Drogensucht?

Mirjam Benecke
3. September 2020

Weniger als die Hälfte der Heroinabhängigen in Deutschland erhält derzeit eine Drogenersatztherapie. In anderen europäischen Ländern ist der Anteil deutlich höher. Nun will eine Kampagne die Quote erhöhen.

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Methadon als Drogenersatz
Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

Jeden Morgen trinkt Claudia Schieren eine Tasse Kaffee und schluckt dazu eine Tablette. Wenn sie vergisst, die Tablette zu nehmen, meldet sich ihr Körper spätestens 48 Stunden später mit Schüttelfrost und Gliederschmerzen.

Die Berlinerin konsumiert seit über 25 Jahren Polamidon - ein Ersatzmittel für Heroin. Rauschzustände bekommt Schieren davon nicht. "Es macht mich leistungs- und arbeitsfähig - aber es macht nicht breit", erzählt Schieren der DW.

In Deutschland sind mindestens 160.000 Menschen von Opioiden - meist Heroin - abhängig. Etwas weniger als die Hälfte von ihnen macht derzeit eine Drogenersatztherapie. In vielen anderen europäischen Ländern ist die Behandlungsquote deutlich höher - in Frankreich, Spanien und Norwegen liegt sie bei etwa 85 Prozent.

Ersatztherapie vorantreiben

Mit der Kampagne "100.000 Substituierte bis 2022" wollen die Deutsche Aidshilfe, der Akzept-Bundesverband und das Selbsthilfenetzwerk JES die Substitution in Deutschland vorantreiben. Bis 2022 sollen mindestens 60 Prozent der Opioid-Abhängigen behandelt werden - ein ehrgeiziges Ziel.

"Aus der Geschichte muss man wissen, dass die Substitutionstherapie zu Beginn der 90er Jahre in Deutschland hoch umstritten war", sagt Dirk Schäffer, Drogenreferent der Deutschen Aidshilfe. Damals galt die Entzugstherapie als das einzig wirksame Mittel im Kampf gegen Heroin.

Der Suchtfaktor von Ersatzstoffen wie Methadon schreckte Ärzte und Politiker ab. "Andere Länder wie Frankreich und Österreich waren da schon viel weiter und haben Menschen längst mit sogenannten Ersatzstoffen behandelt." Diese Skepsis führte in Deutschland zu einem sehr strengen Regelwerk - das sowohl Ärzte als auch Opioid-Abhängige vor der Therapie zurückschrecken ließ.

"Jetzt gibt es aber einen großen Wandel, weil man gesehen hat: Wir kommen so nicht weiter", sagt Dirk Schäffer. Vor zweieinhalb Jahren traten neue Richtlinien des Substitutionsrechts in Kraft. Vieles läuft nun unkomplizierter.

So dürfen stabile Patientinnen und Patienten Substitutionsmittel mit nach Hause nehmen und dort selbst einnehmen. Außerdem gibt es durch die Veränderungen mehr Rechtssicherheit für Ärzte und die Möglichkeit, Patienten individueller zu behandeln.

Aufklärung für Ärzte und Konsumenten

Auch wenn die Lockerungen schon seit 2017 gelten - viele Abhängige und Ärzte scheuen sich noch vor den vermeintlich strengen Auflagen und Regeln einer Substitutionstherapie. "Was wir sehen, ist, dass das zu wenig gelebt wird und zu wenig gewusst wird", so Dirk Schäffer. Das soll die Kampagne ändern. "Wir wollen sowohl  Ärzten als auch Drogenkonsumenten vermitteln, was die Behandlung alles zu bieten hat."

Claudia Schierer | Mitarbeiterin Drogenhilfe Vision e.V.
Claudia Schieren arbeitet bei der Drogenhilfe Vision e.V. und konsumierte selbst viele Jahre HeroinBild: Vision e.V.

Auch Claudia Schieren profitiert von den gelockerten Substitutionsrichtlinien. Sie muss nicht mehr jeden Tag zum Arzt, um dort ihr Ersatzmittel einzunehmen, sondern darf die Polamidon-Tabletten zu Hause schlucken. Trotz dieser Fortschritte hat Claudia Schieren ab und zu daran gedacht, die Therapie zu beenden.

"Ich wollte nicht mein Leben lang das Zeug schlucken", sagt sie. Doch Schieren, die seit 15 Jahren fest im Berufsleben steht, war sich nie sicher, ob sie auch ohne Drogenersatzstoff stabil bleiben könnte. "Die Gefahr ist mir einfach zu hoch, da zu landen, wo ich hergekommen bin."

Beschaffungskriminalität entfällt

Claudia Schieren - Jahrgang 1963 - nahm mit 17 zum ersten Mal Heroin. "Das war damals neu und ich wollte es einfach ausprobieren." Ihre erste Dosis Polamidon bekam sie im Jahr 1989. Damals steckte die Ersatztherapie in Deutschland noch in den Kinderschuhen. 

"Im Krankenhaus gaben mir die Ärzte nach der Geburt meines Sohnes drei Tropfen Polamidon, um vom Heroin wegzukommen", sagt Schieren. "Die Dosis war aber so gering, dass ich gar nichts gemerkt habe." Nach zwei Tagen waren die Entzugsschmerzen so groß, dass Schierer das Krankenhaus verließ - und wieder Heroin nahm.

Ein paar Jahre später versuchte sie es nochmal mit dem Ersatzstoff Polamidon - und diesmal klappte es. "Das war eine riesige Erleichterung", sagt sie. Zu diesem Zeitpunkt - Anfang der 90er Jahre - war sie arbeitslos und versuchte täglich irgendwie an Geld für die Drogen zu kommen. "Wenn dieser ganze Druck wegfällt, hat man auf einmal viel Zeit, die man sinnvoll nutzen kann."

Drogensüchtiger spritzt sich Heroin
Heroin ist das am weitesten verbreitete Opioid auf demDrogenmarkt der EUBild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Für viele ist die Substitutionstherapie eine Chance, dem Teufelskreis aus Drogenkonsum und Beschaffungskriminalität zu entkommen. "Und deshalb kämpfen wir so dafür, dass jeder die Chance zur Behandlung erhält", so Dirk Schäffer von der Deutschen Aidshilfe. "Es gibt noch Grautöne zwischen Schwarz und Weiß - also zwischen abhängig und clean. Die Substitution ist ein Grauton und vielleicht der wichtigste, den wir haben."