"Der Werther-Effekt ist ein Fakt"
18. Mai 2017Explizites Darstellen eines Suizids, die Selbsttötung als logische Folge tragischer Umstände: Diese Darstellung des TV-Streaminganbieters Netflix in der TV-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" des TV-Streaminganbieters Netflix, die im Englischen unter dem passenderen Titel "13 Reasons Why" ("13 Gründe warum") läuft, bricht mit so ziemlich allen Richtlinien zum medialen Umgang mit dem Thema Suizid. Einrichtungen wie die Australische Organisation für psychische Gesundheit "Headspace" oder die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention befürchten Nachahmungstaten.
Der Anstieg der Suizidfälle nach einem durch die Medien bekannt gemachten Selbstmord wird weltweit schon länger beobachtet. Das als "Werther-Effekt" bekannte Phänomen bewegt in Deutschland zuletzt im November 2009 die Öffentlichkeit. Nach der Selbsttötung des Bundesligatorwarts Robert Enke schießt die Selbstmordstatistik in die Höhe: In den ersten vier Wochen nach dem Vorfall werden über 130 Suizide mehr registriert als erwartet, die meisten der Getöteten sind Männer. Droht durch die TV-Serie nun eine neue Suizidwelle?
In seiner Arbeit ist der Kommunikationswissenschaftler Markus Schäfer dem Zusammenhang von Suizid und medialer Berichterstattung auf den Grund gegangen. Die Deutsche Welle sprach mit ihm über die Netflix-Serie und den "Werther-Effekt".
Deutsche Welle: Der TV-Serie wird vorgeworfen, suizidgefährdete Menschen unter bestimmten Umständen zum Selbstmord animieren zu können. Wie gefährlich ist die Serie?
Markus Schäfer: Gefährlich ist die detaillierte Darstellung des Suizids und die Vereinfachung seiner Ursachen. Hier kommt der Mechanismus des sozialen Lernens ins Spiel - den kennen wir alle: Wir schauen Videos im Internet, um zum Beispiel Schminken, Gitarre spielen oder Krawatten binden zu lernen. Das ist das gleiche Prinzip: Menschen lernen anhand medialer Inhalte neue Handlungsmodelle. Im Falle des Suizids können das bestimmte Selbstmordpraktiken oder Gründe sein, etwa Suizid "aus Liebeskummer" oder "wegen Mobbing". Problematisch ist, wenn die Gründe vereinfacht werden oder die Verantwortung anderen zugeschrieben wird – wie es im Fall der Serie passiert. Gesunde Menschen können damit umgehen. Suizidenten leiden fast immer unter psychischen Erkrankungen. Menschen, die sich in akuten suizidalen Krisensituationen befinden, stehen oft zwischen dem Wunsch zu leben und dem Wunsch zu sterben. Hinweisen aus der Umwelt kommt hier große Bedeutung zu. Ein Medieninhalt kann dazu beitragen, dass es in die eine oder die andere Richtung läuft.
Wie sollten Medienschaffende mit dem Thema Suizid umgehen?
Das Thema zu tabuisieren, ist nicht sinnvoll. Suizide sind leider soziale Realität: Jedes Jahr gibt es etwa 10.000 Suizide in Deutschland - das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, HIV und Drogen zusammen! (Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 2015 – Anm. d. Red.) Das zeigt, wie relevant das Thema ist. Filmemacher sollten eine Botschaft senden: Suizide lassen sich verhindern! Es sollte die Komplexität der Hintergründe dargestellt werden. Wäre die Serie ein realer Fall, würde die Hauptfigur sicher unter einer psychischen Erkrankung leiden. Darzustellen, wie jemand in den Suizid getrieben wird, ist aus der Sicht der Suizidprävention kontraproduktiv.
Die TV-Serie steht stark in der Kritik. Das Jugendbuch aus der Feder Jay Ashers wird hingegen sogar als Schulliteratur verwendet, um Schüler für Themen wie Mobbing oder sexuelle Gewalt zu sensibilisieren. Warum ist die TV-Serie so umstritten?
Wegen ihrer Reichweite. Das Fernsehen bekommt mehr Aufmerksamkeit als das Buch. Anders als dort wird das Schauen der Serie oft nicht von Lehrern oder Eltern begleitet. Junge Menschen - an die sich die Serie ja auch richtet - können sich damit zurückziehen. Sie sind dann mit den Inhalten oft allein. Das Grundprinzip ist aber immer das gleiche: Ob es eine Serie, ein Buch oder ein Zeitungsartikel ist – aus allem können Handlungsmodelle entnommen werden. Ob "Tote Mädchen Lügen nicht" einen Werther-Effekt nach sich zieht, werden wir erst mit der Veröffentlichung der Statistiken in zwei Jahren feststellen können.
Gilt der "Werther-Effekt" heute als wissenschaftlich erwiesen?
Ja, das ist ein Fakt. Der Begriff kommt von Goethes "Die Leiden des Jungen Werther" aus dem Jahr 1774. Dort werden zwei Suizide explizit darstellt. Goethe selbst war erschrocken über die Menschen, die sich in der gleichen Weise wie sein Werther das Leben genommen haben - teils mit dem Buch in der Hand. Er hat das Buch sogar noch einmal umgeschrieben. In Mailand wurde das Buch damals sogar verboten. Mittlerweile gibt es weltweit eine große Zahl an Studien, die sich damit befasst haben. Seit den 1980ern gibt es auch in Deutschland Untersuchungen dazu. Ein Anlass war damals die TV-Serie "Tod eines Schülers". Dort wirft sich ein Jugendlicher vor einen Zug. Die Folge waren massive Anstiege der Eisenbahnsuizide im gleichen Jahr.
"Manchmal ist es einfach besser, nicht darüber zu berichten."
Welche Richtlinien sollten Journalisten beim Umgang mit dem Thema Suizid beachten?
Das Problem ist, dass der Suizid selbst von Journalisten häufig als ein "Ereignis von öffentlichem Interesse betrachtet wird". Dabei wäre es manchmal besser, nicht darüber zu berichten. Mein Hinweis - Stellen Sie sich eine Frage: Hätten sie auch bei einer anderen Todesursache – etwa einem Herzinfarkt - auf die gleiche Art und Weise berichtet? Seit 2008 gibt es eine offizielle Richtlinie zur Berichterstattung von der Weltgesundheitsorganisation, die auf den Befunden der Forschung über den Werther-Effekt beruht. Hier finden sich konkrete Hinweise zur Berichterstattung. Nach meinem Eindruck sind diese Richtlinien leider nicht sehr bekannt. Mir persönlich sind zwei Dinge wichtig. Erstens, dass Journalisten und auch Fernsehmacher wissen, dass es den Werther-Effekt gibt und entsprechend verantwortungsvoll mit diesem Thema umgehen. Und zweitens: dass Betroffenen vermittelt wird, dass Alternativen zum Suizid jederzeit verfügbar sind.
Markus Schäfer studierte Publizistik, Psychologie und Politikwissenschaften in Mainz und Genf. Seit November 2011 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz tätig.
Das Gespräch führte Max Hunger.
Schnelle Hilfe erhalten alle Betroffenen rund um die Uhr unter der kostenlosen Rufnummer der Telefonseelsorge: 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 oder imInternet.
Weitere Unterstützung und Informationen zu Selbsthilfegruppen erhalten Sie über die Nationale Kontakt- und Informationsstelle unter der Rufnummer: 030-8914019 oder im Internet.