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Kunst

Sonnenuntergänge - Kitsch oder Kunst?

Tanya Ott
28. November 2022

Sonnenuntergänge sind ein beliebtes Urlaubsmotiv. Fotos davon häufen sich auf Plattformen wie Facebook und Instagram. Doch was fasziniert uns Menschen daran so sehr? Eine Kunsthistorikerin ist dieser Frage nachgegangen.

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Bild eines Sonnenuntergangs über dem Meer, der Himmel ist rosa, lila und orange, im Vordergrund sind das Ufer und Bäume zu sehen.
Klassische künstlerische Darstellung eines Sonnenuntergangs: Félix Vallotton, "Coucher de soleil à Grâce, ciel orange et violet" (1918)Bild: Privatsammlung

Sonnenuntergänge können unglaublich sein. Das schillernde, flüchtige Schauspiel von Lichtern und sich verändernden Farben übt seit jeher eine Faszination auf den Menschen aus. Viele haben versucht, diesen Anblick mit einer Kamera festzuhalten - und mit ihm die Emotionen, die er entfacht. Nur um dann enttäuscht zu sein, dass die Farben auf dem Bildschirm nicht einmal ansatzweise dem nahe kommen, was die eigenen Augen sahen oder weil das Timing falsch war und man es verpasst hat, den Auslöser im richtigen Moment zu drücken. Denn die Farben während des Sonnenuntergangs verändern sich sekündlich.

Das hält die meisten allerdings nicht davon ab, es weiter zu versuchen, wie die mehr als 300 Millionen Posts auf Instagram mit dem Hashtag "sunset" beweisen. 

Annett Reckert, die Kuratorin der Kunsthalle Bremen, ist da nicht anders. Auch sie holt das Smartphone mit Begeisterung heraus, um ein paar Schnappschüsse von der untergehenden Sonne zu machen. Die Popularität des Motivs Sonnenuntergang als Massenphänomen der Amateurfotografie wurde ihrer Meinung nach allerdings bislang nicht ausreichend in den Museen gewürdigt. Darum hat sie das Konzept für eine neue Ausstellung entworfen, die sich "Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne" nennt. Die Schau erkundet die Faszination des Sonnenuntergangs in 120 Arbeiten, von der Romantik bis heute. 

Anna Anchers Bild "Trauer" zeigt zwei Frauen, links eine unbekleidete jüngere, rechts eine schwarz verhüllte, ältere vor einem Kreuz in offener Landschaft. Dahinter ein rötlicher Streifen am Horizont.
Der Sonnenuntergang als Metapher für den Tod: Anna Ancher, "Trauer" (1902)Bild: Art Museums of Skagen/Foto: Kirsten Bojstrup

Reckert ist es wichtig zu betonen, dass die Ausstellung keinen kunstgeschichtlichen Überblick bietet. Vielmehr möchte sie, dass Besucherinnen und Besucher sich fragen, was das Motiv mit ihnen macht - warum uns ein beeindruckender Sonnenuntergang nach der Kamera oder dem Smartphone greifen lassen möchte, um den Versuch zu wagen, das festzuhalten, was wir sehen; warum wir finden, dass manche Abbilder eines Sonnenuntergangs in die Kategorie Kunst fallen, während andere als Kitsch abgetan werden. Und sie fragt auch, was diese Kunstwerke uns über die Luftverschmutzung und den Klimawandel sagen. 

Eine tägliche Erinnerung an den Tod

Reckert hat ihre Theorien darüber, warum wir so stark auf Sonnenuntergänge reagieren: "Es geht um unsere Sterblichkeit. Der Sonnenuntergang ist ein tägliches memento mori, eine Erinnerung an den Tod. Du wirst auch gehen. Ein weiterer Tag ist vergangen und eventuell haben manche eine Restangst, dass die Sonne nicht wieder aufgehen könnte", sagte Reckert der DW. 

Ein Beispiel für das Todesthema in der Ausstellung ist "Trauer", ein Werk von Anna Ancher aus dem Jahr 1902, in dem zwei Figuren - eine alte, verhüllte Frau und eine junge, nackte Frau - bei Sonnenuntergang vor einem Kreuz in offener Landschaft knien. 

Andere Werke wecken spirituelle Assoziationen mit Sonnenuntergängen, wie "Frau vor der untergehenden Sonne", ein kleines Gemälde von 1818 von Caspar David Friedrich, dem großen deutschen Maler der Romantik.

Dieses Werk Caspar David Friedrichs zeigt eine Frau in langem Kleid vor untergehender Sonne.
Ein Sonnenuntergang als religiöse Erfahrung: Caspar David Friedrichs "Frau vor der untergehenden Sonne" (um 1818)Bild: Museum Folkwang Essen/ARTOTHEK

Das Bild der Frau, die von hinten zu sehen ist und ihren Blick über eine Landschaft hinweg auf die Strahlen einer untergehenden Sonne richtet, werde oft als Symbol einer religiösen Erfahrung interpretiert, sagt Reckert. Friedrichs Arbeiten haben mehrfach eine Debatte über Kunst versus Kitsch ausgelöst. Das Sonnenuntergangsmotiv wird oft als Kitsch abgestempelt, ob auf Urlaubskarten oder in der Dekoration billiger Hotels. Die Kuratorin Reckert hat mit Vorsatz jeden Versuch vermieden, die ausgestellten Kunstwerke als hohe oder niedere Kunst zu kategorisieren. Sie sagt, diese Unterscheidung müssten die Besuchenden treffen. 

Sie verweist auf ein großes Werk aus dem Jahr 1871 von Johann Wilhelm Julius Köhnholz, das einen Sonnenuntergang in den bayerischen Alpen zeigt. Als es 1892 von der Kunsthalle erworben wurde, kritisiert es die Presse scharf als Kitsch, und  das Bild verschwand in den Tresoren - bis jetzt. Nun hängt es in der Bremer Ausstellung zwischen Werken von bekannten Künstlern wie William Turner und offenkundig kommerzielleren Objekten wie einer touristischen Postkartensammlung und Werken von Andy Warhol, die speziell für das Hotel Marquette in Minneapolis, im US-Bundestaat Minnesota, in Auftrag gegeben wurden.

Claude Monet und die Luftverschmutzung

Gemälde mit schwarzen Umrisse der Houses of Parliament in London, im Hintergrund eine orangefarbene Sonne
Claude Monet: Das Parlament, Sonnenuntergang (1904, Öl auf Leinwand)Bild: Kunstmuseen Krefeld/Volker Döhne/ARTOTHEK

Ein weiterer berühmter Sonnenuntergang ist Claude Monets "The Houses of Parliament, Sunset" aus dem Jahr 1904. Die träumerische Dunstigkeit des Werkes ist für Kuratorin Reckert allerdings eher ein Zeichen dafür, wie rußverschmutzt der Londoner Himmel damals war. "Smog am Himmel erzeugt intensive Sonnenuntergänge, und das ist natürlich etwas sehr Trügerisches", sagt sie und fügt hinzu, dass dies auch in der Ausstellung angesprochen wird: "Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich mit dem Klimaaspekt beschäftigen. Ich denke, es ist wichtig in dieser Zeit, in der wir von diesen Bildern des Untergangs umgeben sind, diese Bilder auch mit solchen kritischen Überlegungen zu betrachten."

Neben diesen ernsthafteren Überlegungen aber möchte Reckert, dass die Ausstellung etwas von demselben Vergnügen auslöst , das auch Sonnenuntergänge hervorrufen: "Ich hoffe, dass die Besucher in diesem Winter, mit all den schlechten Nachrichten und den Lichtern, die in den Städten ausgeschaltet werden, ihre Seele wärmen können und dass die Ausstellung sinnliche Freuden und Momente der Erkenntnis vermittelt."

Adaption aus dem Englischen: Verena Greb, Petra Lambeck