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Politik

Währungsverfall - Idlib vor der nächsten Katastrophe 

Esther Felden | Birgitta Schülke
12. Juni 2020

Kurz vor neuen US-Sanktionen gegen das Assad-Regime stürzt das syrische Pfund steil ab. Eine wirtschaftliche Katastrophe auch für die Menschen im von Rebellen gehaltenen Idlib. Trotzdem unterstützen sie die Sanktionen. 

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Syrien | Idlib | Wirtschaft | Währungskrise
Bild: Getty Images/AFP/O. H. Kadour

"Madness." Wahnsinn. Mit einem Wort beschreibt Mona, was sie im Moment um sich herum beobachtet. Wenn sie nach der Arbeit durch die Straßen von Idlib City fährt und sieht, wie Menschen vor Apotheken oder Backstuben Schlange stehen. Um sich wenigstens noch ein Brot kaufen zu können oder ein dringend benötigtes Medikament. Für tausende syrische Pfund. Geld, das plötzlich nichts mehr wert ist. Es sind Bilder, die Mona trotz neun Jahren Krieg so noch nicht gesehen hat: "Ich habe Angst, dass viele Menschen verhungern werden. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es fühlt sich an wie Ersticken." 

Ersticken, weil nie Zeit da zu sein scheint, um durchzuatmen.

Seit Monaten ist die DW mit Mona und anderen Einwohnern in der von islamistischen Rebellen besetzten Provinz Idlib in Kontakt. Über WhatsApp schicken sie uns ihre Eindrücke, ihre Bilder.

Nach schweren Kämpfen schöpften sie Anfang März Hoffnung, als ein - wenn auch fragiler – Waffenstillstand in Kraft trat. Doch die kurze Entspannung wurde schnell abgelöst von der Sorge vor dem Coronavirus. Und jetzt droht durch den rasanten Kursverfall der Landeswährung eine neue Katastrophe. 

Das syrische Pfund (SYP) rauscht täglich weiter in den Keller, für einen Dollar musste man auf dem Schwarzmarkt und in den Wechselstuben zeitweise mehr als 3000 SYP zahlen. Zum Vergleich: Vor einem Jahr waren es noch 600. 

Infografik Schwarzmarkt-Wechselkurse in Idlib DE

Die Gründe für den Währungsverfall sind vielschichtig: die durch Jahre des Krieges marode syrische Wirtschaft, die Maßnahmen gegen das Coronavirus, die Wirtschaftskrise im Nachbarland Libanon, über das syrische Privatleute und Firmen traditionell internationale Geschäfte abwickeln.

Mona: Viele Menschen in Idlib unterstützen Sanktionen gegen Assad

Für Mona ist aber ein weiterer Punkt besonders wichtig: "Ein Grund für diese Entwicklung sind neue Sanktionen gegen das Assad-Regime", sagt sie. "Bald wird der Caesar Act eingeführt."  

Der Caesar Syrian Civilian Protection Act, kurz Caesar Act: Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Ende 2019 vom US-Senat verabschiedete Sanktionsliste. Benannt ist sie nach einem Fotografen, der zehntausende Menschenrechtsverletzungen in Syrien dokumentierte. Die Sanktionen richten sich gegen Personen und Firmen, die mit dem Assad-Regime Geschäfte machen. Am 17. Juni treten sie in Kraft. 

Mona findet die Sanktionen grundsätzlich richtig: "Viele Menschen in Idlib unterstützen das Paket. Wir denken, die Maßnahmen schwächen das Assad-Regime. Aber gleichzeitig leidet die Bevölkerung hier natürlich auch unter der schlechten wirtschaftlichen Lage und dem Währungsverfall." 

Syrien Idlib |  Mona al bakkoor (Name darf nicht genannt werden)
Mona: "Ich habe Angst, dass viele Menschen verhungern werden" Bild: Privat

Die Preise für Brot haben sich in den letzten Tagen verdoppelt. Viele Händler würden ihre Geschäfte gar nicht erst öffnen. Das wirtschaftliche Leben in Idlib City, der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz, sei weitgehend zum Stillstand gekommen. 

Ihr selbst geht es noch vergleichsweise gut. Mona ist 25 Jahre alt, verheiratet und arbeitet bei einer ausländischen Hilfsorganisation – ihr Gehalt wird in US-Dollar ausgezahlt. Trotzdem spürt auch sie die Folgen des Währungsverfalls. Fleisch kann sie sich derzeit nicht erlauben, es ist "unerschwinglich". Auch Gemüse hat sie nicht zu Hause, es gebe nicht durchgehend Strom. Nur Grundnahrungsmittel wie Reis oder auch Mehl hat sie vorrätig. 

Dr. Sameeh Qaddour: Die Sanktionen werden Assads Töten nicht beenden 

Im Krankenhaus von Aqrabat unmittelbar an der türkischen Grenze spürt Dr. Sameeh Qaddour den Verfall des syrischen Pfunds noch nicht unmittelbar. "Im Moment sind wir noch einigermaßen ausgerüstet", sagt der 48jährige Arzt. Auch in der auf Orthopädie und Wiederherstellungschirurgie spezialisierten Klinik ist der Dollar die offizielle Währung. 

Um Engpässen bei Medikamenten und medizinischem Material vorzubeugen, suchen Qaddour und seine Kollegen nach Partnern, die die Klinik unterstützen: Internationale Organisationen und auch kleinere Hilfsprojekte aus dem Ausland. Was das Krankenhaus braucht, so Dr. Qaddour, ist eine "robuste medizinische Versorgungskette". 

Was er jenseits des Krankenhauses sieht, beunruhigt ihn. Die Menschen würden immer mehr die Hoffnung verlieren, dass ihr Leid jemals aufhören könnte. "Alle haben jetzt noch mehr Sorgen als vorher. Sie fürchten sich vor Hunger, vor einem Wiederaufflammen des Krieges und vor noch mehr Vertreibungen."

Genau wie Mona und viele andere befürwortet auch Dr. Qaddour die Sanktionen des Caesar Act. "Aber in unserem Inneren glauben wir nicht daran, dass das Assad und seine Verbündeten dazu bewegen wird, das Töten zu beenden und auf einen politischen Kurs umzuschwenken." Stattdessen würden die Maßnahmen die Lebenssituation der Gesellschaft weiter verschärfen. Der Caesar Act bedeute auch mehr Inflation und mehr Armut. 

So sei halt die aktuelle Lage. Hinter diese Whatsapp-Nachricht setzt Dr. Qaddour einen traurigen Smiley. 

Mohamed: Die Mehrheit der Menschen lebt unter der Armutsgrenze

Mohamed benutzt selten Smileys, wenn er schreibt. 

Der 25-jährige gehört zu denjenigen, die alles verloren haben durch den Krieg. Das Haus seiner Familie wurde bei einem Luftangriff zerstört - sie flohen. Wie fast eine Million anderer Menschen lebt er in den notdürftig errichteten Flüchtlingslagern im Norden nahe der Grenze zur Türkei. Seit über einem Jahr schon. Auf die Frage, wie es im geht, antwortet er immer knapp, meist in einem Wort: "gut". Alle seien gesund, es gebe nichts Neues. Der Alltag im Camp: eintönig, trostlos, traurig. 

Syrien Türkei Grenze Flüchtling Mohamed
Mohamed schickt selten Smileys aus IdlibBild: privat

Geld hat hier kaum jemand. Aber der Verfall des Pfunds ist für Mohamed trotzdem ein Thema. "Die Mehrheit der Menschen in Nordsyrien lebt unter der Armutsgrenze", schildert er in einer Sprachnachricht. Es gebe in der Region ohnehin kaum Arbeitsmöglichkeiten, jetzt werde die Armut durch die enorm steigenden Preise noch größer. Und das – so Mohamed weiter – "hat negative Auswirkungen auf alle Menschen in Syrien. Egal, ob hier bei uns oder in den von Assad kontrollierten Gebieten." 

Allerdings: In der Region Idlib ist die Lage besonders kompliziert. Die letzte von syrischen Rebellen gehaltene Provinz, nahe der türkischen Grenze, steht unter der Kontrolle islamistischer Milizen. Es sind überwiegend Kämpfer der Gruppe Hayat Tahir al-Sham (HTS), die aus der Al Nusra-Front hervorgegangen ist. Da im Süden der Provinz die Assad-Truppen stehen, müssen sämtliche Waren für Idlib über die türkische Grenze importiert werden. Immer häufiger wird bereits die türkische Lira als Zahlungsmittel verwendet.

Devisen sind knapp in und um Idlib. Viele internationale Geber haben sich zurückgezogen - aus Sorge, mit ihren Geldern Extremisten zu unterstützen. Der Währungsverfall macht die Lage noch dramatischer.

Syrien Idlib Hayat Tahrir al-Sham Kämpfer
HTS-Kämpfer in IdlibBild: Getty Images/AFP/O. Haj Kadour

Die HTS steckt in Geldnot. Und sucht deshalb vermehrt nach Möglichkeiten, schnell an Cash zu kommen. So erhöhten die Islamisten mehrfach willkürlich Steuern - zum Beispiel auf Strom oder internationale Hilfsgüter, was den Zorn in der Bevölkerung weiter anfacht.

Mona: Die Unzufriedenheit mit den Milizen in Idlib wächst

Seit Tagen kommt es in Idlib immer wieder zu Demonstrationen gegen das Vorgehen von Hayat Tahir al-Sham. Mona teilt die Kritik: "Ich unterstütze nichts, was mit ihnen zu tun hat. Niemals. Ich bin gegen jede bewaffnete Gruppe."

Wenn sie abends in ihrer Wohnung im Stadtzentrum das Fenster öffnet, hört sie durch die Dunkelheit das Hupen und die Schlachtrufe der aufgebrachten Menschen, die ihren Hass herausschreien. Auf Assad und auf die HTS. "Vor ein paar Tagen war eine Demonstration gleich hier in der Nähe." Ungefähr 500 Teilnehmer seien dabei gewesen, schätzt sie. "Sie riefen laut: Sturz dem Regime! Schuld ist das Regime, und Schuld sind die Milizen. Protestiert gegen die Situation!" 

Atempause für Idlib

Dass die Proteste etwas bringen, glaubt Mona nicht. "Trotzdem, es ist das Einzige, was die Menschen tun können. Sie haben einfach Angst, zu verhungern." Sie habe keine Ahnung, was als Nächstes kommen könnte. Die Situation in Idlib sei durch den Verfall der Landeswährung einfach "unvorhersehbar" geworden. Manchmal, so schreibt Mona, fühle sie sich einfach nur machtlos. "Dann denke ich, dass ich zusammenbreche." 

Mitarbeit: Abbas Al Khashali, DW Arabisch