"Die Kamera war mein Schutzschild"
16. Juni 2017Das erste Mal ohnmächtig wurde er, als er mit ansehen musste, wie ein Mann bei einem Luftanschlag beide Beine verlor, erinnert sich Karam al-Masri. An diesem Tag konnte er keine Fotos mehr schießen.
Trotz des Schocks fand der junge Mann bald darauf seinen eigenen Weg, mit dem Blutvergießen umzugehen. In den kommenden Jahren dokumentierte er die schwierige Realität in Aleppo. Die Stadt, in der er aufwuchs, steht heute symbolisch für die Grausamkeiten des syrischen Bürgerkriegs. "Ich habe mir die verwundeten Kinder und leblosen Körper nicht mehr direkt angesehen. Die Kamera war immer dazwischen. So habe ich mich selbst geschützt," sagt er. "Die Kamera war mein Schutzschild."
Revolution statt Jura
Karam al-Masri ist heute 25 Jahre alt, er ist der Sohn eines Lehrerpaars aus der syrischen Mittelklasse. Eigentlich hatte er nie vor, Fotograf zu werden, aber dann landeten seine Bilder von den Kriegsgräueln in Aleppo weltweit auf den Titelseiten von Zeitungen. Als die Rebellen der Freie Syrische Armee 2012 große Teile von Aleppo einnahmen, war al-Masri noch Jurastudent. Der Ost-Teil der Stadt, in dem er aufwuchs, wurde von den Rebellen kontrolliert, als al-Masri sein Studium aufgab und stattdessen mit dem Smartphone Fotos und Videos von Kämpfen und Bombenangriffen aufnahm. Die schickte er dann an arabische TV-Sender. "Die Schule der Revolution war aufregender als die Universität", sagt er heute.
Irgendwann wurde die französische Nachrichtenagentur AFP auf ihn aufmerksam. Wie die meisten westlichen Medien hatten sie keine eigenen Reporter oder Fotografen mehr vor Ort. Syrien war zu gefährlich geworden: Den Medienleuten drohte Gefängnis oder Hinrichtung, wenn sie vom sogenannten "Islamischen Staat" oder anderen radikalisierten Gruppen von Islamisten geschnappt wurden.
AFP kaufte Bilder und Videos von Karam al-Masri, der sich mittlerweile eine Profi-Kamera zugelegt hatte. Nach und nach wurde er zum gefragten Fotografen. Aber wer mit teurer Kamera bestückt durch das belagerte Aleppo läuft, erregt natürlich Aufmerksamkeit: Als der IS die Stadt im November 2013 eroberte, nahmen sie al-Masri gefangen. Aus ihrer Sicht war es äußerst verdächtig. dass da jemand rumlief und Menschen fotografierte.
In den Fängen des "Islamischen Staats"
Es war nicht das erste Mal, dass Al-Masri verhaftet wurde.
Schon 2011, als der Arabische Frühling die arabischen Welt wie ein Beben erschütterte, hatten die Regierungskräfte ihn für einen Monat eingesperrt - wegen seinen angeblich staatgefährdenenden Kommentaren auf Facebook. "Mein Onkel hat die Gefängniswärter bestochen, damit die Folter nicht zu schlimm ausfällt", erinnert sich al-Masri,
Was ihn bei der Inhaftierung durch den IS erwartete, war sehr viel schlimmer, sagt er. Durch den Hunger und Durst während seiner Gefangenschaft habe er seine Angst fast vergessen. Bei der Vertreibung des IS aus Aleppo Anfang 2014 nahmen sie ihre Gefangenen mit in die nahe Ortschaft Al-Bab. Hier erfuhr al-Masri, dass seine Mutter durch eine Fassbombe getötet worden war, die ihr Wohnhaus getroffen hatte. "Ein IS-Mann kam in meine Zelle und sprach mir sein Beileid aus", sagt al-Masri mit versteinertem Gesicht.
Rückkehr ins zerstörte Aleppo
Al-Masri wurde frei gelassen, als der "Islamische Staat" eine Amnestie für Gefangene erließ. Er kehrte zurück ins zerstörte Aleppo, aus dem die Familienmitglieder und Freunde, die noch lebten, längst geflohen waren. Er stürzte sich in die Arbeit: Fast täglich schoss er Bilder von bei Straßenschlachten niedergemetzelten Männern, Frauen und Kindern oder von den Zerstörungen der Bombardements - erst durch die syrische Regierung, später durch die Russen. "Jedes Bild, das ich fotografiert habe, hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben", so al-Masri. "Ich kenne sie auswendig und kann die Umstände, in denen die Fotos zustande kamen, genau beschreiben."
Im Dezember 2016, als die syrische Armee die Stadt einnahm und tausende Zivilisten und Kämpfer gehen ließ, verließ auch al-Masri Aleppo.
Seine Erinnerungen an diesen Tag hielt er in einem bewegenden Eintrag im Korrespondentenblog von Agence France Presse fest: "Aleppo zu verlassen fühlte sich ähnlich an, wie der Tag im Jahr 2014, als ich unter Heckenschützbeschuss geriet. In den ersten zehn Minuten spürte ich gar nichts. (...) Aber dann begann ich zu bluten und dann kam der Schmerz", schreibt er dort. "Mit dem Abschied von Aleppo war es ganz ähnlich. Bei der Abreise war ich wie betäubt, ich fühlte gar nichts. Aber am nächsten Tag traf mich der Schmerz über den Abschied mit voller Wucht." Mit der Hilfe von AFP konnte al-Masri nach Frankreich flüchten, wo er heute lebt und Asyl beantragt hat. Er darf noch nicht arbeiten, erst müssen die Papiere vervollständigt werden. Karam al-Masri weiß genau, was er dann machen will: "Ich möchte wieder vor Ort fotografieren."