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PolitikEuropa

Türkei: Kein Geld mehr für Kurdenpartei HDP

6. Januar 2023

Die pro-kurdische Partei HDP verliert vorübergehend den Zugang zu staatlichen Finanzhilfen. Ein Überblick über die kurdische politische Bewegung im Vorfeld der anstehenden kritischen Wahlen in der Türkei.

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Eine Demonstration von HDP-Anhängern im September 2020 in Istanbul
Mitglieder der pro-kurdischen Partei HDP bei einer Demonstration im September 2020 in Istanbul (Archivbild)Bild: Yasin Akgul/AFP

Das türkische Verfassungsgericht hat am Donnerstag die Bankkonten der pro-kurdischen "Demokratischen Partei der Völker" (HDP) vorübergehend gesperrt. In 30 Tagen soll entschieden werden, ob der Partei dauerhaft der Zugang zu ihren Finanzmitteln versagt bleibt.

In der Türkei läuft seit anderthalb Jahren ein Verbotsverfahren gegen die  HDP. Analysten vermuten dahinter die Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdogan. In der Anklage wirft der Generalstaatsanwalt der Partei unter anderem Separatismus und Verbindungen zum Terrorismus vor.

Die Partei wiederum wirft dem Gericht vor, den Wünschen der Regierung nachzukommen: "Mit dieser Entscheidung möchte man faire und demokratische Wahlen verhindern und den Willen der Wähler ignorieren. Diese Entscheidung wird nicht verhindern, dass die Regierung dennoch verliert und wir umso höher gewinnen!", teilte die HDP per Twitter mit.

HPD-Parteiverbot auf Erdogans Geheiß?

Die staatlichen Mittel sind für alle türkischen Parteien lebenswichtig. Der stellvertretende HDP-Vorsitzende Tayip Temel hatte bereits vor Bekanntgabe der Entscheidung erklärt, dass dies einem Parteiverbot gleichkäme. Man würde die HDP verbieten, "bevor das Verbotsverfahren überhaupt zu Ende gekommen ist." Nun scheint seine Sorge sich zu bewahrheiten. Entsprechend gespannt wartet man auf den Gerichtsentscheid.

"Das Verfassungsgericht ist heute zum Wahlkampfinstrument der AKP geworden", sagte die HDP-Sprecherin Ebru Günay, kurz nach dem Entscheid. Auch Beobachter bezeichnen das Verfahren als politisch motiviert.

"Die türkische Justiz ist höchst parteiisch geworden, also muss die Entscheidung an der Spitze des politischen Regimes getroffen worden sein", meint der türkische Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabanci-Universität in Istanbul.

Kurden sind an Benachteiligung gewöhnt

"Falls die Partei in den nächsten Monaten verboten wird, wäre das keine Anomalie", sagt Esen. Die kurdische Politik unterliege seit Jahrzehnten staatlichem Druck. "Kurdische Politiker haben Verfolgung erlebt, in die Länge gezogene Gerichtsverfahren, viele gingen ins Gefängnis", so Esen.

Zwischen 1990 und 2009 wurden sieben pro-kurdische Parteien- aus verfassungsrechtlichen Gründen verboten. Sie wurden danach stets unter einem neuen Namen wieder gegründet. 

Eine Frau hält die Fotos von dem kurdischen Politiker Selahattin Demirtas in der Hand
Eine Frau protestiert mit Fotos für die Freilassung des inhaftierten Ex-Vize-Vorsitzenden der HDP, Selahattin DemirtasBild: Getty Images/AFP/Y. Akgulac

Nach den Kommunalwahlen 2019 wurden viele demokratisch gewählte Bürgermeister in kurdisch geprägten Städten wegen Terrorismusvorwürfen entlassen und von Zwangsverwaltern ersetzt. Zu den prominentesten Inhaftierten in der Türkei gehört Selahattin Demirtas. Der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP sitzt seit sechs Jahren im Gefängnis, gilt aber bis heute als einer der einflussreichsten Politiker der Türkei.

Seit 2015 macht die AKP anti-kurdische Politik  

Noch in den 2000er Jahren unterstützten zahlreiche Kurden die AKP. Im Rahmen der Demokratisierungsagenda der Regierungspartei wurden den Kurden viele Rechte zugesprochen, darunter das Recht auf Bildung in kurdischer Sprache und der Zugang zu kurdischsprachigen Medien.

Damals sprach man nicht mehr von der "Kurdenfrage", sondern von einem "Lösungsprozess". "Während der ersten Jahre der AKP-Regierung gab es eine relative Toleranz gegenüber der kurdischen politischen Opposition", analysiert Esen.

Der Wendepunkt kam 2015, als die HDP in den Wahlen über 13 Prozent der Stimmen erzielte und damit der AKP den Verlust der parlamentarischen Mehrheit bescherte. Erdogan entschied sich daraufhin, mit der Partei für Nationalistische Bewegung (MHP) zu koalieren. Bis heute bestimmt das islamistisch-nationalistische Bündnis die Politik im Land entscheidend mit. 

Glassplitter, kaputte Wahlplakate und demolierte Stühle in einem Parteibüro der pro-kurdischen HDP in Marmaris
Das Büro der HDP in der südtürkischen Marmaris ist einer der vielen HDP-Büros, die 2021 angegriffen wurdenBild: DHA

Im selben Jahr machte die Regierung die HDP für eine Anschlagsserie verantwortlich, zu der sich eine angeblich kurdische Terrorgruppe namens TAK bekannte, von der die breite Öffentlichkeit in der Türkei bis dahin noch nie gehört hatte und die auch seither nie wieder in Erscheinung getreten ist. Seither bemüht die türkische Regierung einen zunehmend nationalistischen Diskurs.

Das kurdische Votum ist für die türkischen Wahlen entscheidend

Nun steuert die Türkei auf kritische Wahlen zu. Offiziell sollen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen spätestens am 18. Juni stattfinden. Die kurdischen Stimmen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge stellt die kurdische Bevölkerung circa 15 bis 20 Prozent der Wählerschaft in der Türkei.

Präsident Erdogan wird erneut für die AKP kandidieren. Es wird erwartet, dass sechs der Oppositionsparteien ihn mit einem einzigen Kandidaten herausfordern, um die Chance zu erhöhen, die Wahlen gegen den Machthaber zu gewinnen. Laut unterschiedlichen Umfragen haben sie dieses Mal eine realistische Chance, die Wahlen zu gewinnen und den seit mehr als zwanzig Jahren regierenden AKP-Chef abzusetzen.

Die HDP gehört allerdings nicht offiziell zu dem sogenannten "Sechsertisch" der Opposition: Mit Kurden offen zusammenzuarbeiten, gilt in der Türkei immer noch als Tabu.

Erdogans Wiederwahl ungewiss

Prognosen gehen davon aus, dass Langzeitpräsident Erdogan die anstehende Präsidentenwahl tatsächlich verlieren könnte. Die kurdischen Stimmen - immerhin fast ein Fünftel aller Stimmen - würden dieses Mal sicher nicht auf Erdogan entfallen, vermutet Esen.

Berk Esen, Politikwissenschaftler in der Türkei
Der türkische Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabanci-Universität in IstanbulBild: Privat

"Höchstwahrscheinlich werden sie den Herausforderer wählen. Das weiß er ganz genau. Deswegen versucht er, so viele kurdische Wähler wie möglich zu überzeugen, gar nicht wählen zu gehen." Das Verbotsverfahren gegen die HDP sei Teil dieser Strategie.

Fraglich ist jedoch, ob diese Rechnung aufgeht: In einem kürzlich veröffentlichten Artikel hat der kurdische Politiker Demirtas aus dem Gefängnis heraus die Opposition darin bestärkt, einen einzigen Kandidaten aufzustellen. Es wäre eine "Tragödie", falls dies nicht gelingen würde, schrieb Demirtas.

Esen prognostiziert, dass die kurdischen Wähler größtenteils diesen Gegenkandidaten wählen werden: "Viele kurdische Wähler sind besorgt darüber, in welche Richtung das politische Regime der Türkei steuert und besonders, darüber, was mit der HDP passieren kann."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.