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Politik

Türkei: Wo sind die 128 Milliarden Dollar?

Daniel Derya Bellut | Aram Ekin Duran
6. Mai 2021

Die Opposition verdächtigt die Regierung, Devisenreserven im Wert von 128 Milliarden US-Dollar veruntreut zu haben. Erdogans Partei reagiert, indem sie die Opposition mit einem Trickfilm als Lügner verunglimpft.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip ErdoganBild: Reuters/PPO/M. Cetinmuhurdar

Seit Wochen gibt die größte Oppositionspartei CHP nicht nach. Mit dem Slogan "128 milyar dollar nerede?" - zu deutsch: "Wo sind die 128 Milliarden Dollar geblieben?" - fordert die Partei nachdrücklich Aufklärung von der türkischen Regierung. Gemeint ist der undurchsichtige Verkauf von milliardenschweren Devisenreserven, der in der jüngsten Vergangenheit von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP abgewickelt wurde. Ankara versuchte alles, um das Thema nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Doch unnachgiebig konfrontiert die CHP die Regierung mit Nachfragen zum Verbleib des Geldes.

Nun holen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierungspartei zum Gegenschlag aus: Gestern wurde auf dem offiziellen Twitter-Konto der AKP ein Zeichentrick-Video veröffentlicht, das sofort viral ging und seither in den sozialen Medien heftig diskutiert wird. In dem satirischen Zeichentrickvideo wird die CHP der Lüge bezichtigt. Es ist zu sehen, wie Partei-Chef Kilicdaroglu und weitere Mitglieder der CHP-Führung in einem Labor eine "Lügen-Maschine" bedienen, die am laufenden Band Unwahrheiten produziert. 

Geldpolitik im Verborgenen

Ausgangspunkt dieser Schlammschlacht zwischen den beiden größten türkischen Parteien war der Verkauf der Devisenreserven. Im Prinzip handelt es sich um ein legitimes Mittel einer Zentralbank, um Währungsschwankungen auszugleichen oder die nationale Währung zu stabilisieren. Aber dieses Mal beschuldigt die Opposition die Regierung, nicht transparent vorgegangen zu sein.

Grund genug für die größte Oppositionspartei CHP seit Wochen gründlich nachzubohren: die Sozialdemokraten setzten das Verschwinden der 128 Milliarden US-Dollar im türkischen Parlament auf die Tagesordnung - erhielten aber keine Auskunft von der Regierung.

Sie ließen sich nicht abwimmeln, trugen das Thema vom Parlament auf die Straße. Sie ließen überdimensionale Transparente mit der Aufschrift "Wo sind die 128 Milliarden Dollar geblieben?" anfertigen. An immer mehr Häuserfassaden in türkischen Großstädten prangte der provokante Slogan. Die Regierung schickte die Polizei, die Plakate abzunehmen.

Regierung liefert widersprüchliche Erklärungen

Doch auch ohne Plakate ließen die Diskussionen nicht nach. Weil der öffentliche Druck zu groß wurde, musste die islamisch-konservative Regierungspartei dann doch Rechenschaft ablegen. Das Geld sei nicht verschwunden oder veruntreut worden, sondern sei zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und zum Ausgleich von Währungsschwankungen eingesetzt worden, versicherte der türkische Präsident Erdogan im Februar. "Das Geld ist zwischen Wirtschaftsakteuren und unseren Bürgern zirkuliert, hat also nur den Platz gewechselt", sagte der Präsident vor zwei Wochen. Zwei Antworten, die von weiten Teilen der Öffentlichkeit und der Opposition als widersprüchlich wahrgenommen wurden.

Die Opposition verdächtigt Erdogan und die Regierung, die Devisen auf illegalem Wege verkauft zu haben. Ein Verdacht, der sich für die Opposition dadurch erhärtete, dass der Verkauf der Devisenreserven nicht von der dafür vorgesehen Zentralbank, sondern vom Finanzministerium durchgeführt wurde - das Ministerium wurde zum Zeitpunkt des Verkaufs von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak geleitet.   

128 Milliarden US-Dollar als "Symbol der Wirtschaftskrise"

Wirtschaftsexperten wiederum gehen davon aus, dass das Geld ausgegeben wurde, um Probleme der türkischen Wirtschaft zu lösen. Der Kolumnist und Wirtschaftsexperte Baris Soydan nimmt an, dass der Verkauf durchgeführt wurde, um vor den Kommunalwahlen im März 2019 die Türkische Lira im Vergleich zum Dollar aufzuwerten - damals und heute befindet sich die türkische Wirtschaft in einer heftigen Krise. Laut Soydan sei der Verkauf eine gravierende Fehlentscheidung gewesen: Die schlechte Lage der türkischen Wirtschaft habe sich durch den Eingriff nur weiter verschlechtert. "Sie haben Devisen verkauft, damit der Dollar nicht steigt. Doch der Dollar ist gestiegen." Die Ausgaben in Höhe von 128 Milliarden US-Dollar seien, so Soydan, reine Verschwendung gewesen. "Wenn diese Verkäufe nie gemacht worden wären, wären wir heute am selben Punkt."

Was geschah hinter verschlossenen Türen, möchte Wirtschaftsexperte Yelda wissen
Was geschah hinter verschlossenen Türen, möchte Wirtschaftsexperte Yelda wissenBild: Privat

Die 128 Milliarden US-Dollar seien zum "Symbol der Wirtschaftskrise geworden, in der die Türkei seit Langem feststeckt", findet auch Wirtschaftsprofessor Erinc Yeldan von der Istanbuler Kadir-Has-Universität. "Warum diese Transaktion hinter verschlossenen Türen durchgeführt wurde, ist eine wichtige Frage", sagt Yeldan. 

Kilicdaroglu kündigt filmische Revanche an

Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu meldete sich nach der Veröffentlichung des Zeichentrickfilms umgehend auf Twitter zu Wort. Er bekräftigte, dass es immer noch keine klare Antworte darauf gebe, was mit den 128-Milliarden US-Dollar geschehen sei.

Kilicdaroglu interpretiert den Cartoon als Versuch der Regierung, bei jungen Wählern zu punkten - eine große Wählergruppe, die bei den nächsten Wahlen zum ersten Mal wählen dürfen. Verschmitzt kündigt der CHP-Chef an, dass diese Gruppe bestimmt einen Zeichentrickfilm über die AKP machen wird. Der CHP-Chef weiß genau, dass Erdogan bei dieser jungen, modernen Generation nicht besonders gut ankommt.