Aktivist Osman Kavala weiter in Haft
20. Dezember 2020Der 63-jährige Unternehmer, Philanthrop und Aktivist Osman Kavala muss sich zum dritten Mal vor Gericht verantworten. Der Vorwurf: Kavala habe versucht, die "konstitutionelle Ordnung der Republik Türkei umzustürzen" und "Informationen für den Zweck politischer oder militärischer Spionage zu sichern, die aus Gründen der Sicherheit und der Interessen des Staates geheim gehalten werden sollten".
Die erste Anhörung in dem Prozess fand am 18. Dezember 2020 in einem Istanbuler Gericht statt. Mittels Videoübertragung nahm Kavala daran teil. Die Anschuldigungen in der Anklageschrift würden tatsächlichen Beweisen entbehren, argumentierte er. Außerdem stünden sie konträr zu seiner Weltsicht, seinen ethischen Werten und den Nichtregierungsorganisationen, für die er verantwortlich ist. "Meine andauernde Inhaftierung, die auf diesen seltsamen Anschuldigungen gründet, die so fern der Wahrheit sind, hat sich zu einer mentalen Quälerei entwickelt. Ich hoffe, dies wird die letzte Anklage dieser Art sein", sagte er.
Das Gericht setzte die Weiterführung von Kavalas Inhaftierung fest. Der Staatsanwalt bat die Zeugen, sich für die nächste Anhörung bereit zu halten, die am 5. Februar 2021 stattfinden soll.
Wer ist Osman Kavala?
Kavala ist eine der prominentesten Persönlichkeiten der türkischen Zivilgesellschaft. Der Geschäftsmann hat seit den 1980er-Jahren am Aufbau verschiedener Verlagsunternehmen in der Türkei mitgewirkt und ein Jahrzehnt später begonnen, zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen zu unterstützen.
2002 gründete er "Anadolu Kültür", eine Non-Profit-Organisation in Istanbul, die kulturelle und soziale Projekte fördert. Sie ermöglicht die Produktion und Vermarktung von Kunst und Kultur in der Türkei, unterstützt lokale Initiativen, betont kulturelle Vielfalt und Rechte und festigt die lokale und internationale Zusammenarbeit: Kavala war in der Türkei Gründungsmitglied der "Open Society Foundations" des US-amerikanischen Philanthropen George Soros.
Frühere Anschuldigungen im Zusammenhang mit den Gezi-Park-Protesten
Kavala war zuvor beschuldigt worden, die Gezi-Park-Proteste 2013 in Istanbul eingefädelt und finanziert zu haben. Am 18. Oktober 2017 wurde er nach einem Treffen mit dem deutschen Goethe-Institut in Sicherungsverwahrung genommen. Bei dem Treffen war es um ein gemeinsames Projekt mit Anadolu Kültür gegangen. Zwei Wochen später, am 1. November 2017, wurde Kavala verhaftet. Er habe versucht, die konstitutionelle Ordnung und die Regierung umzustürzen. Inhaftiert wurde er im Hochsicherheitsgefängnis Silivri außerhalb Istanbuls.
Im Februar wurde Kavala dann aus Mangel an Beweisen überraschend freigesprochen. Gegen die Richter wurde anschließend ermittelt. Nur ein paar Stunden später erging dann ein neuer Haftbefehl gegen ihn – dieses Mal in einem anderen Fall: Kavala wurde beschuldigt, in den Putschversuch vom 15. Juni 2016 involviert gewesen zu sein. Fast einen Monat später wurde er zwar erneut von diesem Vorwurf freigesprochen, doch wegen des Vorwurfs der "politischen oder militärischen Spionage" weiterhin in Untersuchungshaft gehalten.
Gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Kavala blieb weiter in Haft – und das, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 10. Dezember 2019 entschieden hatte, er müsse sofort auf freien Fuß gesetzt werden. Mit der Inhaftierung sei nämlich die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt worden. Laut EGMR basiere Kavalas Inhaftierung auf politischen Motiven – ohne angemessene Beweise, die die Vorwürfe stützen würden. Die türkischen Beamten setzten diese Entscheidung allerdings nicht um, das EGMR-Urteil sei nicht final. Im Mai 2020 lehnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Anfrage der Türkei ab, die Große Kammer des EGMR solle sich erneut mit der Frage befassen. Damit trat das Urteil vom Dezember in Kraft.
Im September 2020 bereitete das Büro des Istanbuler Generalstaatsanwalts dann erneut eine Anklageschrift vor, wonach Kavala beschuldigt wird, mit Henri Barkey zusammengearbeitet zu haben. Barkey ist ein bekannter türkischer Gelehrter in den USA, der türkischen Angaben zufolge den Putschversuch 2016 in der Türkei mitgeplant haben soll. Auch Kavala wird vorgeworfen, eine Rolle bei dem Putschversuch gespielt zu haben. Im droht einelebenslange Freiheitsstrafe.
Keine gültige Grundlage für Kavalas Inhaftierung
Die Anklage sei nicht mehr als eine mutmaßliche Erfindung und gründe nicht auf konkreten Beweisen, sagte Professor Koksal Bayraktar, einer von Kavalas Anwälten: "Die konstitutionelle Ordnung umzustürzen und geheime Informationen des Staates auszuspionieren, sind sehr schwerwiegende Vorwürfe. Aufgrund dieser Verbrechen Klage zu erheben, bedarf konkreter Beweise und Vorkommnisse. Für diese Vorwürfe bietet die Anklageschrift keine legale Grundlage."
Die Anklageschrift wirft Henri Barkey Verbindungen zum Netzwerk des in den USA ansässigen islamischen Geistlichen Fethullah Gülen vor, der von der türkischen Regierung angeklagt ist, den Putschversuch vom 15. Juni 2016 eingefädelt zu haben. Außerdem versucht sie, die Gezi-Park-Proteste an den Putschversuch und an Kavala und Barkey zu binden. Es gibt allerdings keinen Beweis, der diese Behauptungen stützen würde.
"Die Anschuldigungen sind politisch begründet"
Laut Kavalas Anwalt Bayraktar würden die Gezi-Park-Proteste in über der Hälfte aller neuen Anklagepunkte angeführt. Im Gezi-Prozess sei Kavala aber doch von all diesen Vorwürfen freigesprochen worden, stellt er heraus. "Kavala ist seit 38 Monaten im Gefängnis. Wir haben es mit einer Situation zu tun, die den Menschenrechten entgegensteht", so Bayraktar.
Weltweit haben Menschenrechtsorganisation Kavalas Inhaftierung scharf kritisiert und öffentlich bekundet, die Anschuldigungen seien ihrer Meinung nach politischer Natur. Am 21. Juni wurde die zehnminütige Online-Oper "Osman Bey and the Snails" veröffentlicht, um für die Freilassung des Philanthropen und Kulturförderers zu kämpfen.
Adaption: Verena Greb / Niko Fischer