Taiwan braucht keine Festland-Touristen
20. Februar 2017Auf dem Platz vor dem "Taipei 101" herrscht Hochbetrieb. Der Wolkenkratzer mit der charakteristischen Bambushalm-Fassade und das bis 2009 offiziell höchste Gebäude der Welt ist Pflichtprogramm jeder Taiwan-Reise. Junge Koreanerinnen versuchen, sich und den über 500 Meter hohen Turm auf ein Selfie zu quetschen. Eine Gruppe aus Vietnam baut sich zum Gemeinschaftsbild auf. Chinesen folgen ihrem Reiseführer zum Aufzug, der sie zur Aussichtsplattform im 89. Stock befördern soll. Dabei passieren sie Männer und Frauen in leuchtend gelben Hemden, die im Schneidersitz auf dem Pflaster meditieren. Es sind Anhänger der in China verfolgten Falun-Gong-Bewegung, die hier Tag für Tag chinesische Touristen abpassen. Auf großen Schrifttafeln prangern sie Menschenrechtsverletzungen der Regierung in Peking an. Die meisten Chinesen schauen nur verstohlen hin. In jeder Reisegruppe können auch Aufpasser der Partei dabei sein.
Solche Begegnungen mit Taiwans Meinungsfreiheit nahm Chinas Regierung in Kauf, als sie 2008 begann, Touristen zu schicken. Zuvor hatte es noch nicht einmal Direktflüge gegeben. Innerhalb weniger Jahre explodierte die Zahl der chinesischen Besucher auf mehr als vier Millionen pro Jahr. Taiwans damalige chinafreundliche Regierung hoffte auf sprudelnde Einnahmen im Tourismussektor, der im Vergleich zu anderen asiatischen Zielen bescheiden war. Peking seinerseits baute darauf, auf diesem Weg seinen wirtschaftlichen Einfluss über Taiwan zu verstärken. Und beide Seiten verkauften die Touristenzahlen als sichtbarsten Erfolg einer neuen Entspannungspolitik.
Peking drosselte 2016 Touristenstrom
2016 änderte sich die Stimmung. Die Annäherung an China, das von seinem Machtanspruch über Taiwan nie abrückte, ging vielen Bürgern zu weit. Bei den Wahlen kam es zum Regierungswechsel. Als Taiwans neue Präsidentin Tsai Ing-wen im Mai 2016 ihr Amt antrat, bekannte sie sich anders als ihr Vorgänger nicht mehr explizit zum Konzept des "Ein China". Seitdem zieht Peking auf vielen Ebenen die Daumenschrauben an, blockiert etwa Taiwan auf internationalem Parkett und schickt seinen Flugzeugträger durch die Meerenge von Taiwan.
Auch die Besucherzahlen gingen zurück, auf nur noch 3,5 Millionen Chinesen vom Festland. Besonders deutlich fiel der Rückgang bei Reisegruppen aus: Ein Drittel weniger seit Tsais Amtsantritt. Offiziell räumt Peking es nicht ein, doch da Behörden die Reise-Kontingente festlegen, gilt als sicher: So will China Druck auf Taiwans neue Regierung ausüben.
Taiwan meldet Besucherrekord
Um so größer war die Freude vieler Taiwaner, als das Tourismusbüro kürzlich Statistiken vorlegte und einen neuen Rekord vermelden konnte: Mehr als 10,6 Millionen Besucher verzeichnete Taiwan 2016. Das waren 2,4 Prozent mehr als im Vorjahr - trotz des Rückgangs aus China. Das liegt daran, dass aus vielen anderen Ländern Asiens deutlich mehr Reisende kamen: 17 Prozent Plus aus Japan etwa, 34 Prozent aus Südkorea und Vietnam, und aus Thailand sogar 57 Prozent. Zusammengenommen wog das den Verlust aus China mehr als auf.
Dies entspricht Tsais erklärter Strategie, die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Festland zu verringern und mehr Bande in Richtung Südostasien zu knüpfen. So dürfte der starke Anstieg bei thailändischen Besuchern eine Folge der neuen Visumfreiheit sein, die seit August gilt. Vietnam, Thailand oder Indonesien gelten als aufstrebende Märkte, auf die Taiwan sich in der Vergangenheit zu wenig konzentriert hatte.
Ein weiterer Grund dafür, dass Chinas Tourismus-Strafaktion verpuffte: Reisende aus Japan, Südkorea oder Singapur gelten als besonders finanzkräftig, kauffreudig und vielseitig interessiert. Der chinesische Massenansturm mit seinen Reisebus-Flotten dagegen erzeugte in den vergangenen Jahren bei vielen Taiwanern auch Vorbehalte. Einige Reiseziele wie der Alishan-Berg oder der Sonne-Mond-See in Zentral-Taiwan galten als hoffnungslos überlaufen, Medienberichte über unangemessenes Verhalten chinesischer Touristen kamen hinzu.
Festland und Taiwan - zwei Welten auch im Tourismus
Einige Unternehmen, die ganz auf den Festland-Touristen gesetzt hatten, beklagen nun Einbußen. Die gesamtwirtschaftlichen Nachteile hielten sich aber in Grenzen, sagt Ian Rowen, der als Ethnologe seit langem chinesischen Tourismus in Taiwan untersucht.
Ob Hotels, Busse, Restaurants oder Souvenirläden - das Reisegruppen-Geschäft aus der Volksrepublik sei fast komplett in der Hand von Konzernen, hinter denen oft Kapital aus China oder Hongkong stecke. Der meiste Profit fließe also wieder ab. Auch für zwischenmenschliche Begegnungen mit Taiwanern gebe es bei den straffen Terminplänen kaum Gelegenheit, sagt Rowen, der selbst Reisegruppen im Bus durch Taiwan begleitet hat. Wenn chinesische Touristen am "Taipei 101" auf Falun-Gong-Anhänger und ab und zu auf demonstrierende Unabhängigkeits-Befürworter treffen, sei das für sie eine seltene Gelegenheit, Unterschiede in Politik und Gesellschaft unmittelbar zu erleben.