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Terror gegen Migranten: Die Keupstraße 20 Jahre später

Burak Ünveren | Tuncay Yıldırım
8. Juni 2024

Vor 20 Jahren explodiert in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe. Das Umfeld der Opfer gerät unter Verdacht. Einem Verdacht gegen Neonazis gehen die Ermittler nicht nach - und traumatisieren die Opfer so zusätzlich.

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Eine Ladenzeile mit zerborstenen Scheiben, abgesperrt mit einem rot-weißen Flatterband, davor ein Polizist
Die Keupstraße in Köln-Mülheim nach dem Terroranschlag im Juni 2004Bild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Köln, am 9. Juni 2004 um kurz vor 16 Uhr: Auf der geschäftigen Keupstraße im Stadtteil Mülheim gibt es einen gewaltigen Knall. Vor dem Frisörsalon eines Türkei-stämmigen Kölners ist eine Nagelbombe explodiert. Scheiben sind zersplittert, Autos beschädigt, der Frisörsalon ist verwüstet, es brennt. 22 Menschen sind verletzt, vier von ihnen schwer. Keiner von ihnen wird sterben. Doch viele Betroffenen - auch körperlich unversehrte - werden traumatisiert bleiben, für lange Zeit. Grund dafür ist auch die Arbeit der Ermittlungsbehörden.

Ali Demir war damals einer der ersten Zeugen, die vor der Polizei aussagen. "Als die Bombe detonierte, saß ich alleine in meinem Büro in der Keupstraße", erzählt er der DW. "Als das Glas zersplitterte, warf ich mich auf den Boden. Ich dachte, es wäre nur Gas. Draußen schrien Menschen. Die Explosion fand statt, während Kleinkinder von der Kita abgeholt wurden. Das Ziel war, die Kinder und ihre Eltern zu töten."

Generalverdacht gegen Migranten und ihre Nachkommen

Einen Tag nach der Explosion sagt der damalige deutsche Innenminister Otto Schily öffentlich, die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden deuteten nicht auf einen terroristischen Hintergrund hin, sondern auf "ein kriminelles Milieu". Um einen Machtkampf unter Kriminellen soll es also gegangen sein, sagt der zuständige Bundesminister. In den Vernehmungen werden die Zeugen unter anderem gefragt, ob sie Schulden hätten, versichert seien und ob es Rivalitäten in der Keupstraße gegeben habe. "Ich kannte alle Ladenbesitzer in der Straße. Es gab keine Rivalitäten", sagt Demir.

Ein Protestbanner hängt vor einer Schweigeminute zur Erinnerung an den NSU-Nagelbombenanschlag: "Kein Raum für Nazis"
Jährlich gedenkt das Viertel um die Keupstraße dem NagelbomenanschlagBild: picture-alliance/dpa/R. Pfeil

Schilys Satz habe damals alle überrascht, erinnert sich Demir. Die ganze Straße sei kriminalisiert worden, meint er, und das Statement des Ministers habe die Situation nur verschlimmert: "Die Polizei unternahm Razzien in der Straße, beschuldigte die Ladenbesitzer."

Der Generalverdacht richtete sich also gegen Türken, Kurden und Deutsche, die aus der Türkei stammen. Denn ihre Läden - Restaurants, Juwelier- und Schuhgeschäfte, Friseursalons und andere - sind es, die die etwa 900 Meter lange Keupstraße damals wie heute prägen.

Hat die Politik daraus gelernt?

Ein Verdachtsmoment gegen die rechtsradikale Szene wird aber sehr schnell verworfen. Erst im November 2011 wird der Nagelbombenanschlag der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zugeordnet. Schily gibt einen "schwerwiegenden Irrtum" zu.

Kemal Bozay ist Professor für Sozialwissenschaften an der Internationalen Hochschule Köln und Mitglied im Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention. Er wirft der Politik Gleichgültigkeit vor: "Auch wenn die Anschläge des NSU zwischen 1998 und 2011 in der deutschen Politik und Gesellschaft ursprünglich für viele Diskussionen sorgten, führten diese in der Politik nicht zu großen Änderungen", sagt Bozay. Obwohl bereits 2011 klar wurde, dass der NSU hinter dem Anschlag steckte, blieben bis heute viele Fragen unbeantwortet. Auch das Verspechen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Familienangehörigen, dass der NSU-Komplex vollständig aufgeklärt würde, sei nicht eingehalten worden: "Dafür wurden bisher keine bedeutsamen Schritte genommen", beklagt sich Bozay.

Auch die Präsidentin der Interessengemeinschaft Keupstraße, Meral Şahin, ist resigniert: "Nicht viel hat sich geändert. Einige Politiker kamen, posierten für Fotos und gingen wieder. Wir sind wieder einsam, aber zumindest keine Verdächtigen mehr."

Meral Şahin mit Bluse und seidenem Kopftuch in einem Geschäft mit Blumengestecken und anderen Dekoartikeln
Meral Şahin, Präsidentin der Interessensgemeinschaft Keupstraße, in ihrem Geschäft für DekorationsartikelBild: Privat

Immer noch im Gedächtnis

Den Kölner Stadtteil Mülheim wählte die NSU-Gruppe nicht zufällig aus. Etwa jeder dritte Einwohner hat eine Migrationsgeschichte. Und die Keupstraße ist einer der zentralen Punkte des Lebens von Türkeistämmigen aus ganz Köln.

In der Kunst wurde das Ereignis mehrmals thematisiert. Der deutschtürkische Rapper Eko Fresh komponierte 2014 ein Lied über den Anschlag mit dem Titel "Es brennt". Auch der Film "Aus dem Nichts" des renommierten Regisseurs Fatih Akin wurde von dem Anschlag inspiriert. 2018 wurde er bei den Golden Globe Awards und den Critics’ Choice Movie Awards als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet.

Gespaltene Gesellschaft

Seit zehn Jahren wird dem Ereignis gedacht - um die Trauer in Erinnerung zu bewahren. Mit dem Kulturfest "Zusammenstehen-Birlikte" möchte man in festlicher Atmosphäre ein Zeichen gegen Hass setzen.  "Es geht um einen Terrorangriff. Wir feiern natürlich nicht diesen Angriff, aber wir versuchen, eine festliche Atmosphäre zu schaffen. Damit kommen Menschen zu uns und lernen unsere Straße kennen", erklärt Meral Şahin.

Zahlreiche Menschen beim Fest "Birlikte - Zusammenstehen" zum Gedenken an den Terroranschlag über ihnen ein Banner "Keupstr."
Tausende Menschen beim Fest "Birlikte - Zusammenstehen" zum Gedenken an den TerroranschlagBild: picture-alliance/dpa

Soziologe Bozay sieht einen gewissen Bewusstseinswandel in Deutschland seit den NSU-Morden: "Man kann heute sagen, dass in der deutschen Gesellschaft ein Bewusstsein über den NSU und den Rassismus entstanden ist. Nach den Anschlägen und Morden des NSU entstand in Deutschland eine Sensibilisierung gegenüber Rechtsextremismus und Rassismus. Im Vergleich zur Vergangenheit redet man heute mehr über die Gefahr, die vom Rassismus und rechtsextremistischer Gewalt ausgeht."

Gleichzeitig weist er darauf hin, dass sich "Rassisten" weiterhin treffen und Remigrationspläne schmieden können oder, dass auf einer touristischen Insel wohlhabende junge Deutsche enthusiastisch "Ausländer raus" singen. "Das sind klare Beweise dafür, dass die rassistischen Tendenzen gleichzeitig immer stärker werden", meint Bozay. "Dies führt zur mehr Spaltung und Vertrauensverlust in der Gesellschaft. Die migrantischen Communitys werden immer ängstlicher."

"Birlikte" – Zusammenstehen gegen Rechts

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.