Thatchers europäisches Erbe
9. April 2013Als 1989 nach Jahrzehnten des Kalten Krieges der eiserne Vorhang fiel und die Wiedervereinigung Deutschlands praktisch über Nacht auf die politische Tagesordnung katapultierte, fanden sich die Deutschen plötzlich gegenüber den vier Siegermächten in einer für sie ungewohnten Lage wieder.
"In Deutschland hatte man sich daran gewöhnt, dass die Briten und die Franzosen immer für die deutsche Einheit eingetreten sind. Und das haben sie ja auch getan - solange diese Einheit weit, weit entfernt war", erklärt Heinz Schulte, Experte für deutsch-britische Beziehungen und ehemaliger London-Korrespondent der Zeitung "Die Welt".
Der Lackmustest kam jedoch, als die Mauer in Berlin fiel: Plötzlich sah die Lage anders aus. Zwei der ehemaligen Kriegsmächte waren - wenn auch aus völlig verschiedenen Gründen - für die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Sowjetunion, weil sie ihr langjähriges Einflussgebiet in Mittel- und Osteuropa nicht mehr abdecken konnte. Und die USA, die die Vorteile eines sowjetischen Rückzugs aus Mittel- und Osteuropa sofort realisiert hatten.
"Also waren es nun Großbritannien und Frankreich, die skeptisch - wenn nicht gar dagegen - waren. Margaret Thatcher und François Mitterrand. Sie haben damit keinen großen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet - das muss man der Wahrheit halber sagen", so Schulte. "Thatcher hat versucht, sich gegen den Lauf der Geschichte zu stemmen und musste damit scheitern."
Die Einheit als Sicherheitsrisiko
Bereits zwei Monate vor dem Fall der Mauer warnte die Eiserne Lady in einem vertraulichen Gespräch mit Michail Gorbatschow, die deutsche Einheit würde "zu Veränderungen der Nachkriegsgrenzen führen. Dies können wir nicht zulassen, da eine solche Entwicklung die gesamte internationale Stabilität untergraben würde und unsere Sicherheit in Gefahr brächte."
Paris ließ sich durch Deutschlands Zustimmung zu einer gemeinsamen europäischen Währung umstimmen, Thatcher hingegen blieb bei ihrer Ablehnung. Ihre Skepsis beruhte nicht zuletzt auf der traditionellen britischen Sorge um das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent und der Angst vor einem zu mächtigen Deutschland. "Dies kam auch dadurch, dass ihre Familie, bevor sie Studentin in Oxford wurde, zwei junge jüdische Mädchen aus Wien in der Familie in Grantham aufgenommen hat", erklärt der britische Politologe Anthony Glees im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "Mit einem dieser Mädchen war Margaret Thatcher ihr Leben lang befreundet. Und die Geschichten, die sie über Wien 1938 und den Einmarsch der Nazis erzählten, hat Thatcher nie vergessen."
Thatcher habe die Bundesrepublik und die Tatsache, dass es ein anderes Deutschland mit anderen Deutschen an der Macht gab, nie richtig verstanden, glaubt Glees. Für sie war das Land immer zu mächtig, zu groß. Und ein zweigeteiltes Deutschland habe schlicht weniger gefährlich gewirkt als ein großes dominierendes Deutschland. Die britische Premierministerin blieb in ihrem Deutschlandbild im von nationalstaatlichem Denken geprägten 20. Jahrhundert verhaftet - einer Welt "geprägt von Waffen und nationalstaatlichen Emblemen", so Schulte. Doch es war ein Deutschlandbild, das sich nicht bestätigen sollte. Deutschland und Europa nahmen einen anderen Weg als Thatcher befürchtet hatte.
Auch wenn aufgrund der anhaltenden Finanzkrise im Euroraum mancherorts die Sorge über ein allzu dominantes Deutschland wächst, so kann dies den Experten zufolge dennoch nicht als späte Bestätigung von Thatchers Thesen betrachtet werden. Die Bilder von Angela Merkel mit Hitlerbärtchen auf den Plakaten wütender Demonstranten in Zypern oder Griechenland liegen in der Eurokrise begründet, "die vom damaligen Standpunkt aus nicht vorhersehbar war", so Schulte. Er plädiert dafür, Thatcher eher als Person im Umfeld ihrer Zeit und ihres politischen Kontextes zu sehen. Und er warnt davor, sie heute noch für Fragen der europäischen Einigung heranziehen zu wollen.
No, no, no! zu mehr Europa
Thatchers Verhältnis zur europäischen Einigung ist das zweite große Thema, bei dem die britische Premierministerin für den Kontinent von Bedeutung wurde. Hatte sie sich bei der Wiedervereinigung Deutschlands schließlich beugen müssen, so blieb sie im Bezug auf Europa ihrem Ruf als Eiserne Lady treu. Dennoch war es letztlich ihre Haltung zu Europa, die zum Ende ihrer politischen Karriere führte. Auch wenn Thatcher sich nicht gegen die Europäische Gemeinschaft als wirtschaftliche Union stellte, so waren doch die Pläne für eine Machtverschiebung in Richtung Brüssel für sie nicht akzeptabel.
"Kommissionspräsident Delors sagt, er möchte das EU-Parlament als demokratisches Organ der Gemeinschaft, die Kommission als die Exekutive und den Ministerrat als Senat. Nein, nein, nein!", rief eine vehemente Thatcher im britischen Unterhaus im Jahr 1990. Das "No" zu mehr Europa jedoch war es, was zum Ende hin ihre Position selbst innerhalb ihrer eigenen Partei so weit untergrub, dass sie zurücktreten musste. Und doch war ihre Skepsis keine, die sich gegen Europa an sich richtete. Viel eher war sie darum bemüht, die Gemeinschaft weiter in ihrem Sinne mitzugestalten - ohne sich der Mehrheit der Stimmen aus Europa beugen zu müssen.
Bei allem Streit mit Brüssel hatte Thatcher sich nicht für einen Austritt des Landes ausgesprochen, erklärt Schulte mit Blick auf die gegenwärtige politische Diskussion in Großbritannien: "Thatcher hätte nie den gleichen Weg eingeschlagen wie der heutige Premierminister David Cameron hinsichtlich eines Referendums über den Verbleib in der EU. Sie war eine schwierige Gesprächspartnerin, aber sie hat immer innerhalb der Gemeinschaft argumentiert", betont Großbritannien-Kenner Schulte. "Und sie hätte sich niemals am Nasenring durch die nationale Arena ziehen lassen, wie es ihre konservative Partei derzeit von der UK Independence Party mit sich machen lassen - jener Partei, die für den Austritt aus der EU wirbt."
Keine Vision für Europa
Was Thatcher fehlte, so Schulte, war eine auf die Zukunft gerichtete Vision für Europa. Inzwischen ist die EU - trotz aller Probleme - der wichtigste Partner der Vereinigten Staaten insbesondere mit Blick auf das aufstrebende China. Ihr globales Gewicht geht mittlerweile weit über traditionelle Fragen des Handels oder der gemeinsamen Verteidigung hinaus. Als Folge davon hat sich das gesamte transatlantische Verhältnis weg von der herausragenden Beziehung zwischen Washington und London verschoben. "Diese Beziehung besteht zwar nach wie vor, aber es gibt eben auch eine Beziehung zwischen Washington und Berlin beispielsweise oder zwischen Washington und Canberra mit Blick auf den pazifischen Raum", erklärt Schulte.
Thatcher wird als eine der zentralen Persönlichkeiten in der Entwicklung Europas und Deutschlands auf dem Weg zu Wiedervereinigung in Erinnerung bleiben. Doch viele ihrer Sorgen um Europa und Deutschland waren eher von einem Blick zurück geprägt als von der Vision eines vereinigten Europas. "Herr Cameron sieht sich sicherlich in der Tradition Thatchers - doch ob das objektiv der Fall ist, wage ich zu bezweifeln," betont Schulte. "Thatcher war eine herausragende Persönlichkeit, doch muss sie im Umfeld und Kontext ihrer Zeit gesehen werden."