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Tour 2020: Eine Fahrt ins Ungewisse

26. August 2020

Am Samstag beginnt die Tour de France - inmitten der zweiten Corona-Welle. Fahrer schwanken zwischen Zuversicht und Skepsis, Virologen warnen. Doch der Radsport braucht die Einnahmen dringend. Kann das gutgehen?

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Frankreich Radsport Tour de France 2019
Fährt das Peloton auch 2020 wieder durch dichte Zuschauerspaliere? Bild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Ein Radrennen aus virologischer Sicht: 176 Körper, ohne Abstand, dicht an dicht gedrängt. Niemand trägt einen Mundschutz. Es wird gerufen, geschwitzt, geschnieft und tief eingeatmet. Der Fahrtwind verteilt die ausgestoßenen Aerosole auf die Hinterleute, lässt eine Wolke an kleinsten Tröpfchen entstehen. Und die verteilt sich auch auf das dichte Spalier der Zuschauer, durch das das Peloton fährt. Kurz gesagt: ein virologischer Albtraum.

Nach Monaten gekennzeichnet von abgesagten Sportevents, von Geisterspielen und der Verlagerung des Sports in die Virtualität beginnt am Samstag die erste Sport-Großveranstaltung in diesem Jahr: Mit dem Start der 107. Tour de France im südfranzösischen Nizza beschreitet die Sportwelt noch unbekanntes Terrain: Ein Megaevent mit Zuschauern in Zeiten von Corona - kann das gutgehen?

Frankreich droht eine neuer Corona-Hotspot

An dieser Frage scheiden sich die Geister. Befürworter betonen das verantwortungsvolle Konzept des Veranstalters. Mahner befürchten einen neuen virologischen Hotspot, der die ohnehin steigenden Infektionszahlen in Europa weiter in die Höhe treiben könnte. Jonas Schmidt-Chanasit gehört zur zweiten Gruppe. Der Virologe von der Universität Hamburg warnt vor einem erhöhten Infektionsrisiko durch die Ansammlung größerer Menschengruppen. "Wir wissen, dass sich das Corona-Virus über Tröpfchen verbreitet. Wenn wir singen, jubeln, schreien, stoßen wir diese Tröpfchen besonders stark und besonders weit aus. Andere Menschen können diese Tröpfchen dann einatmen und sich infizieren", sagt Schmidt-Chanasit im Gespräch mit der DW und legt dabei den Finger in eine Wunde.

Denn anders als bei vielen Sportevents, die zuletzt unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, werden bei der Tour viele Zuschauer am Streckenrand stehen. Im Start- und Zielbereich sind jeweils maximal 5000 Zuschauer zugelassen, an manchen Bergen wird die Anzahl ebenfalls limitiert, ansonsten ist der Zugang zur Strecke frei - auch weil die Tour nicht täglich 200 Kilometer Straße für das Publikum voll absperren kann. Niemand weiß, wie viele Zuschauer an die Strecke kommen werden. In den Vorjahren waren es in drei Wochen bis zu 12 Millionen Menschen.

Frankreich Radsport Tour de France 2019
Renn-Ausschluss bei zwei Infektionen: Kommen alle Teams in Paris an?Bild: picture-alliance/Augenklick/Roth

"Auch entlang der Rennstrecke sollte sichergestellt sein, dass die Fangruppen sich nicht zu sehr ballen", fordert Schmidt-Chanasit, der jedoch selbst zweifelt, ob das realistisch ist. Tatsächlich fordert die Tour-Organisation ASO die Zuschauer auf, eine Maske zu tragen und zwei Meter Abstand zu den Fahrern zu halten. Doch das beherzigen nicht alle, hat Tony Martin beim Critérium du Dauphiné beobachtet, der Generalprobe zur Tour - auch im Hinblick auf das neue Hygiene-Konzept.

"Bei der Dauphiné habe ich täglich Zuschauer am Straßenrand gesehen, die keine Maske getragen haben, wie es eigentlich vorgeschrieben ist. Es wäre ganz wichtig, die Zuschauer darauf hinzuweisen, dass jeder einzelne eine Maske trägt", sagte Tony Martin im exklusiven DW-Interview. Für die Fahrer sehe er ein geringes Infektionsrisiko, aber die Gesundheit der Zuschauer mache ihm Sorgen und 5000 Menschen im Start- und Zielbereich seien "eine sehr große Zahl. Ich hoffe, dass uns das nicht auf die Füße fallen wird."

Fünf Corona-Fälle im Profi-Peloton

Infografik Tour de France Tross DE

Das Prinzip Hoffnung fährt mit, auch bei den Teams. Sie sind maßgeblich sponsorenfinanziert und brauchen die Medienpräsenz während des größten Radrennens der Welt. Als im Frühjahr die Rennen coronabedingt ausfielen, gerieten einige Teams in finanzielle Schwierigkeiten, Gehälter wurden zum Teil drastisch gekürzt. Dank der Tour sieht es nun wieder besser aus. Doch damit könnte es schnell vorbei sein: Das Reglement der Tour 2020 sieht vor, dass Fahrer, die positiv auf das Coronavirus getestet werden, sofort ausgeschlossen werden. Kommt binnen sieben Tagen ein zweiter Fall hinzu - und zwar ganz gleich, ob Fahrer oder Betreuer - wird die ganze Mannschaft aus dem Rennen genommen.

Um dieses Szenario zu verhindern, haben die Teams geschlossene Blasen etabliert: Fahrer und Betreuer werden regelmäßig getestet, müssen überall außer im Rennen eine Maske tragen und dürfen keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Nicht einmal Familienmitglieder dürfen während der Frankreich-Rundfahrt zu Besuch kommen. Zudem untersuchen die Teamärzte alle Fahrer täglich auf Corona-Symptome.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kam es in den letzten Wochen immer wieder zu positiven Fällen: Leonardo Basso (Team Ineos), Larry Warbasse, Silvain Dillier (beide Team AG2R La Mondiale), Omer Goldstein (Team Israel Start-up Nation), Hugo Houle (Team Astana) und zuletzt ein nicht namentlich genannter Fahrer des deutschen Bora-Hansgrohe-Rennstalls wurden positiv auf COVID-19 getestet. Zweifel an der Durchführbarkeit des gesamten Unternehmens Tour de France sind also erlaubt, auch wenn sich manche dieser Fälle später als falsch-positive Tests entpuppten. Um dies zu vermeiden hat der Weltverband UCI einen Tag vor dem Start das Sicherheitsprotokoll angepasst und eine obligatorische "B-Probe" angeordnet.

Schafft es die Tour überhaupt bis ins Ziel nach Paris? Der deutsche Radprofi Rick Zabel vom Team Israel Start-up Nation ist skeptisch: "Das ganze Konzept ist fragil. Ich kann mir vorstellen, dass unter Umständen auch eine Tour de France abgebrochen werden muss." Auch die Ansteckungsgefahr im Peloton selbst könnte noch zum Thema werden, wie eine kontrovers diskutierte Studie des Aerodynamik-Forschers Bert Blocken für die Universitäten Leuven und Eindhoven aufgezeigt hat. 

Die 150-Millionen-Euro-Tour

Zwar wurde der tägliche Tross der Tour de France im Vergleich zum Vorjahr von rund 4500 auf rund 3500 Personen reduziert, die Werbekarawane um rund 40 Prozent geschrumpft. Doch auch das ist immer noch ein sehr großer Personenkreis. Und der trifft an den Etappenorten auf Hotel- und Gastronomie-Personal, örtliche Sicherheitskräfte, Zuschauer, Sponsoren, Lokalpolitiker oder Hilfskräfte. Die potentiellen Kontakte während der dreieinhalb Wochen langen Tour de France sind kaum zu überblicken. Und all das in einer Zeit, in der die Corona-Infektionszahlen in Frankreich wieder sprunghaft steigen, zuletzt um mehr als 23.000 Fälle binnen sieben Tagen.

Doch die Show muss weitergehen, denn die Tour ist nicht nur ein nationales Heiligtum in Frankreich, sie ist auch ein Wirtschaftsfaktor. 150 Millionen Euro setzte die ASO 2013 mit der Tour um. Aktuellere Zahlen sind nicht bekannt, inzwischen dürfte die Zahl aber deutlich gestiegen sein. Städte und Gemeinden hoffen auf einen Werbeeffekt und hohe Übernachtungszahlen, TV-Sender erzielen Werbe- oder Abo-Einnahmen mit dem Rennen, Sponsoren brauchen die Plattform für ihre Marken und Produkte.

"Symbol der Wiedergeburt"

"Diese Tour wird ein Symbol der Wiedergeburt und des wirtschaftlichen Aufschwungs sein", glaubt Tourchef Christian Prudhomme, der solche Sätze natürlich sagen muss. Und Stars wie Peter Sagan betonen demonstrativ, "keine Angst" vor dem Virus zu haben. Doch viele Fragen bleiben offen: Kann sich die Tour überhaupt effektiv abschotten? Wie werden mögliche positive Tests das Rennen beeinflussen? Und wie gefährlich ist all das für das Publikum?

Klar ist: Einen Großteil ihrer Faszination erzielt die Tour de France durch einen zentralen Faktor: Nähe. Genau dieser Faktor könnte nun zu ihrem größten Problem werden. Virologe Jonas Schmidt-Chanasit warnt: Aerosole könnten auch unter freiem Himmel zum Problem werden, wenn Abstandsregeln missachtet und der Mund-Nasen-Schutz nicht getragen werden. "Das könnte ein Superspreading-Event auslösen."

Ein Blick in die Geschichte der Tour de France: