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Martin Walsers neuer Roman "Ein sterbender Mann"

Jochen Kürten
8. Januar 2016

Mit 88 Jahren legt Martin Walser noch einmal einen Roman vor: Ein Mann hat dort Krankheit und den Tod vor Augen - und klammert sich doch an das Leben. Vor allem aus einem ganz bestimmten Grund…

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Martin Walser Porträt (Foto: Patrick Seeger/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Der Leser stößt in Martin Walsers Roman gleich auf ein Dutzend Sätze wie diesen:

Wenn man bei Todesnachrichten sofort und ganz automatisch rechnet, wie viel älter oder jünger der Gestorbene oder die Gestorbene war, dann ist man alt.

…oder auch auf Beschreibungen von Verfall und Alter wie folgende:

Wenn er aufwacht und es tut ihm überhaupt nichts weh, wie soll er sich dann damit abfinden, dass er nicht mehr dreißig oder fünfzig ist und dem Tod eher nah? Dann muss er doch fürchten, er werde, wenn es so weit ist, genauso ungern sterben, wie er mit dreißig ungern gestorben wäre. Das Erschreckende, dass die Sterbebereitschaft beziehungsweise -fähigkeit nicht zunimmt, dass der Tod immer noch eine Katastrophe ist beziehungsweise die Katastrophe überhaupt.

"Ein sterbender Mann" ist ein Roman über den nahenden Tod eines Menschen, ein Buch über das Sterben. Insofern fügt es sich gut ein in die wachsende Literatur, die sich seit einigen Jahren schon des Themas Sterben und Tod annimmt: Romane und autobiografische Texte sowie Sachbücher jeglicher Couleur.

Walser schreibt mit 88 Jahren über den Tod

Doch wenn Journalisten oder auch Autorinnen und Autoren mittlerer oder gar jüngerer Jahrgänge über den Tod schreiben, dann ist das immer noch etwas ganz anderes, als wenn ein angesehener Schriftsteller, der tatsächlich auf die 90 zugeht, das Thema zur Grundlage eines Romans macht. So besitzt Walsers Buch über den Tod tatsächlich eine größere Dringlichkeit.

Schriftsteller Martin Walser (Foto: "picture-alliance/dpa/F. Kästle")
Urgestein der deutschen Literatur: der 88-jährige Martin WalserBild: picture-alliance/dpa/F. Kästle

Martin Walser ist für viele Leserinnen und Leser in Deutschland inzwischen "der große alte Mann" der deutschsprachigen Literatur. Nach dem Tod von Literaturnobelpreisträger Günter Grass, dem zum "Literaturpapst" geadelten Marcel Reich-Ranicki oder auch Autoren wie Siegfried Lenz, ist Walser einer der wenigen noch aktiven Autoren einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit und Epochen-Brüche wie das Jahr 1968 noch erlebt hat.

Von Günter Grass ist im vergangenen Jahr postum das Buch "Vonne Endlichkait" erschienen, in dem er sich über körperlichen Zerfall, Krankheit und das nahe Ende, aber auch das Aufbäumen gegen den Tod ausließ. "Vonne Endlichkait" war vor allem ein Band mit Lyrik und kurzen Prosatexten.

Zwischen Beruf, Hobby und Liebesleben: die Romanfigur Theo Schadt

Walsers Roman hingegen bietet zunächst einmal klassische Romankost. Erzählt wird von Theo Schadt, 72, einem gescheiterten und betrogenen Unternehmer, im Nebenberuf erfolgreicher Autor für populäre Ratgeberliteratur, inzwischen an der Kasse eines Ladens für Tango-Zubehör arbeitend. Das Geschäft gehört Theos Frau Iris.

Zwei Dinge treiben Theo an und die Romanhandlung voran. An der Kasse lernt der alternde Theo eines Tages die junge Sina kennen, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Das bringt den Mann außer Fassung. Und hält seinen Überlebenswillen wach. Martin Walser dokumentiert diese Liebe eines alten Mannes vornehmlich in Briefen, die sein Hauptcharakter an die Angebetete schreibt.

Und dann ist da noch ein vom Arzt diagnostizierter Tumor. Theo meldet sich daraufhin in einem Selbstmordforum an und kommuniziert dort mit Gleichgesinnten.

Sticheleien gegen den literarischen Betrieb

Zudem wird die Romanhandlung immer wieder von direkten Ansprachen Theo Schadts an einen "Herrn Schriftsteller" unterbrochen. Ergänzt wird die lineare Erzählung von Aphorismen über den Tod und andere literarische Ausflüge mehr. Martin Walser, der sich in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder zu Fragen der Politik und Gesellschaft ausgelassen hat, ergänzt sein Erzählgeflecht mit Anmerkungen zur deutschen Geschichte und ätzenden Einlassungen zum literarischen Betrieb hierzulande.

Walsers neuer Roman «Ein sterbender Mann» - Buchcover (Foto: rowohlt)
Bild: Rowohlt/dpa

Die Geschichte des Theo Schadt setzt sich so zusammen aus den verschiedendesten Textbausteinen. Gleichzeitig spielt und experimentiert Walser mit der eigenen Autorenschaft. Den Überblick zu behalten dürfte dem Leser nicht immer leicht fallen. Auch das emotionale Zentrum des Romans, die literarischen Charaktere wie Theo Schadt, seine Frau Iris oder die junge Sina, gerät an einigen Stellen aus dem Blickfeld.

Mit Ironie gegen den Tod anschreiben

Trotzdem ist "Ein sterbender Mann" ein lesenswerter, weil überraschend heiterer und eminent ironischer Roman. Walser beschreibt Theo als Menschen zwischen emotionaler Hingabe und Verlustängsten, zwischen Depression und heiterer Gelassenheit. Das hat an vielen Stellen Witz und satirische Schärfe. Man liest den Roman mit Gewinn. "Der sterbende Mann" ist die Tragödie eines alternden, manchmal lächerlichen, oft aber auch sympathischen alten Narren.

Und wer von dem meinungsfreudigen Schriftsteller Martin Walser einen Debattenbeitrag zum aktuellen Thema Flüchtlinge haben will, der wird auch bedient:

Es wäre, so Theo Schadt, möglich, diese Tragödien zu beenden, wenn jeder, der in Deutschland ein Haus sein eigen nennt, einen Flüchtling aufnehmen würde. In jedem Haus hat noch ein Flüchtling Platz. (…) Jeder, der ein Haus besitzt, kann dann ein Jahr lang für diesen Flüchtling sorgen. Nach dem Aufnahme-Jahr übernimmt der Staat die Sorge.

Walser legt diese Worte seiner literarischen Figur in den Mund. Ob er das selbst so sieht und wie viel Martin Walser in Theo Schadt steckt, darüber darf der Leser rätseln.

Martin Walser: Ein sterbender Mann, Roman, Rowohlt 2016, 288 Seiten, ISBN 978 3 498 07388 6.