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PolitikNahost

Nahost: Befreundete Autokraten jagen Aktivisten im Ausland

Cathrin Schaer
6. August 2023

Dissidenten leben im Ausland gefährlich. Autokratische Regime wie Saudi-Arabien, die Türkei oder der Iran haben sich zuletzt angenähert. Könnte die transnationale Repression damit zunehmen?

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Demonstration in Barcelona zu Unterstützung der Gefangenen aus der Rif-Region in Marokko
In Europa gab es mehrere Demonstrationen gegen die Inhaftierungen von Aktivisten aus der marokkanischen Rif-Region, wie auch hier in Spanien 2018Bild: Paco Freire/ZUMA/picture alliance

Nachdem er Drohungen erhalten hatte, ließ Aziz Agrawli Sicherheitskameras in seinem Haus und Garten installieren.

"Mein Name und meine Adresse wurden in den sozialen Medien veröffentlicht", erklärt Agrawli, ein Mitglied der marokkanischen Anti-Regierungs-Bewegung Hirak Rif. "Die Leute haben gesagt, sie würden zu meinem Haus kommen und eine Rechnung begleichen", erzählt Agrawli der DW. "Wir haben so viele Drohungen erhalten", fährt er fort. "Die marokkanische Geheimpolizei hat versucht, mich über meine Familie unter Druck zu setzen, auch indem sie meine Kinder in den sozialen Medien angesprochen hat."

Agrawli, der seinen vollen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte, glaubt, dass all diese Aktionen auf irgendeine Art und Weise mit der Regierung Marokkos und ihren Sicherheitsdiensten zusammenhängen. Die Hirak-Bewegung hat sich 2016 in der benachteiligten nördlichen Region Rif gegründet. Anführer der Bewegung wurden in mutmaßlich politisch motivierten Prozessen zu teilweise 20 Jahren Haft verurteilt. Human Rights Watch bezeichnete diese Urteile damals als "schockierend".

Überwacht und gestalkt in Europa

Agrawli stammt ursprünglich auch aus der Rif-Region, aber er und seine Familie leben seit über 30 Jahren im deutschen Nordrhein-Westfalen. Nachdem die Proteste in seiner Heimat begonnen hatten, begannen er und seine Freunde, Proteste in ganz Europa zu organisieren. Seitdem werden sie eigenen Angaben zufolge schikaniert, bedroht und überwacht - und das mutmaßlich von der eigenen Regierung.

Die DW hat die marokkanische Regierung um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen gebeten, doch bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels noch keine Antwort erhalten. Eine kürzlich erfolgte Verhaftung in Deutschland könnte Agrawlis Standpunkt möglicherweise untermauern. Im vergangenen Monat hat in Düsseldorf ein Gerichtsverfahren begonnen, in dem die Bundesanwaltschaft einen 36-jährigen Marokkaner angeklagt hat, Mitglieder der Hirak-Bewegung in Deutschland ausspioniert zu haben. Agrawli wird als Zeuge aussagen.

Marokkaner wegen mutmaßlicher Spionage vor Gericht - er hält eine Akte vor sein Gesicht
Marokkaner wegen mutmaßlicher Spionage vor Gericht: Das Düsseldorfer Gerichtsverfahren wird voraussichtlich bis Ende August laufenBild: Martin Höke/dpa/picture alliance

Der Vorwurf, der hier im Raum steht, wird auch "transnationale Repression" genannt. Der Begriff bezieht sich auf Regierungen, die grenzüberschreitend aktiv werden, um gegen Dissidenten, die außerhalb des Landes leben, vorzugehen.

Transnationale Repression ist kein neues Phänomen, für Aktivisten im Nahen Osten und Nordafrika aber besonders gefährlich. Nach Angaben der Demokratiebeobachtungsorganisation Freedom House in den USA sind über 70 Prozent der Fälle ein Resultat der Zusammenarbeit zweier nicht-demokratischer Regierungen. Freedom House dokumentiert diese Fälle einer Datenbank. Ein Bericht der Organisation über transnationale Repression in 2022 zeigt auf, dass in diesem Zusammenhang die Türkei, Ägypten, der Iran und Saudi-Arabien zu den schlimmsten Übeltätern gehören.

"Die Regierungen in diesen Ländern, die wir als 'nicht frei' bezeichnen, neigen dazu, illiberale Werte zu vertreten und haben eine schwache Rechtsstaatlichkeit, so dass die Menschen dort tendenziell gefährdeter sind", erklärt Yana Gorokhovskaia, Forschungsdirektorin bei Freedom House. Sie leitet die Arbeit zu transnationaler Unterdrückung.

In jüngster Zeit hat es im Nahen Osten eine Welle diplomatischer Entspannung gegeben. Länder wie Saudi-Arabien, Ägypten, Katar, die Vereinigten Arabischen Emiraten und die Türkei haben ihre Beziehungen untereinander verbessert. Könnte also eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen diesen ehemals sich nicht wohl gesonnenen Nachbarn zu mehr transnationaler Repression führen?

Erhöhte Gefahr für Aktivisten?

Das sei kaum einzuschätzen, sagt Gorokhovskaia im DW-Gespräch. Das liege zum Teil daran, dass viele Vorfälle nirgendwo aufgezeichnet würden, "weil die jeweiligen Länder nicht preisgeben, was sie tun, oder weil die Zivilgesellschaft vor Ort diese Fälle nicht beobachten können". Ein Großteil der transnationalen Repression geschehe durch informelle Zusammenarbeit zwischen gleichgesinnten Regierungen, sagt die Expertin. 

Jüngste Erfahrungen zeigen, dass neue "Freundschaften" zwischen autoritären Regierungen ein Problem darstellen können. So hatte sich die türkische Regierung früher gegen die Verfolgung der uigurischen Minderheit durch China ausgesprochen und Uiguren lange Zeit Zuflucht gewährt. Doch seitdem Ankara sich in ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet, hält es sich gegenüber China in der Uiguren-Frage zurück.

Das Interpol Gebäude in Lyon in Frankreich
Interpol hat kürzlich berichtet, dass es jährlich etwa 1.000 Ersuche von Ländern ablehnt, etwa die Hälfte davon aus MenschenrechtsgründenBild: Andrew Matthews/empics/picture alliance

"Mit der Annäherung zwischen Peking und Ankara erleben wir auch mehr Einschüchterungen und Schikanen gegen Uiguren in der Region", sagt Gorokhovskaia. "Insgesamt scheint die Türkei je nach geopolitischem Umfeld bereit zu sein, transnationale Repressionen zu unterstützen."

Sowohl die Türkei als auch Katar haben Mitgliedern der religiös-politischen Organisation der Muslimbruderschaft Zuflucht gewährt. Doch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten halten die Muslimbruderschaft für gefährlich. Anfang dieses Monats hat die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Ägypten wieder aufgenommen und ist auch finanziell zunehmend an Saudi-Arabien und die VAE gebunden. Nach mehreren Jahren der diplomatischen Isolation nähert sich auch Katar seinen Nachbarn am Golf immer weiter an.

Welche Rolle spielt der Arabische Innenministerrat?

Es sei schwer zu sagen, ob die jüngsten geopolitischen Entwicklungen das Potenzial für transnationale Unterdrückung erhöhen, sagt Alexis Thiry, Rechtsberater bei der in Genf ansässigen Rechtshilfeorganisation MENA Rights Group. Seine Organisation habe sich in letzter Zeit zunehmend mit solchen Fällen befasst und ein beunruhigendes Muster festgestellt, bei dem jedes Mal ein Gremium namens Arabischer Innenministerrat (AIMC) eine Rolle gespielt hat. Der AIMC besteht seit 1982 und ist Teil des Sicherheitsapparats der Arabischen Liga.

"Seit Anfang des Jahres haben wir an drei verschiedenen Akten gearbeitet, in denen der AIMC erwähnt wird. Wir haben noch nie davon gehört, dass der Rat vor Januar 2023 auf diese Weise eingesetzt wurde", so Thiry zur DW. "Wir befürchten, dass die arabischen Staaten zunehmend auf den AIMC zurückgreifen, um Haftbefehle zu verbreiten und die Auslieferung von politischen Gegnern zu verlangen, die in einem anderen Mitgliedsstaat der Arabischen Liga leben oder dorthin reisen."

Sowohl Thiry als auch Gorokhovskaia befürchten, dass sich Staaten in der Region zunehmend an die AIMC wenden könnten, um die Auslieferung von Oppositionellen zu erwirken, anstatt sich an Interpol zu wenden. Interpol-Mitgliedsländer können um Hilfe bei der Festnahme einer gesuchten Person bitten. In jüngster Zeit sind die Ersuche an Interpol aber auch in die Kritik geraten, weil sie von Ländern wie China, Russland, der Türkei, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten genutzt wurden, um politische Gegner in anderen Ländern zu verhaften.

Im Juni haben mehrere Experten der Vereinten Nationen einen Brief an die Arabische Liga über den AIMC geschrieben. "Die Staaten scheinen bei der Bewertung des politischen Charakters der gegen Einzelpersonen erhobenen Anklagen nicht die gebührende Sorgfalt walten zu lassen", argumentierten sie.

Wie geht man gegen transnationale Repression vor?

Es gebe noch weitere Entwicklungen, die transnationale Repression überall zu einem größeren Problem machen, sind sich die Experten einig. Dazu gehörten der Einsatz digitaler Instrumente, um Menschen zu belästigen und zu überwachen, aber auch der zunehmende Einsatz biometrischer Technologien zur Identifizierung von Personen, wenn diese zum Beispiel mit einem anderen Pass reisen.

Marokkanische Anti-Regierungs-Aktivisten bei Demonstration
Marokkanische Anti-Regierungs-Aktivisten sagen, sie seien in Europa verfolgt und schikaniert wordenBild: Jalal Morchidi/AA/picture alliance

Obwohl es schwierig ist, transnationale Repression zu bekämpfen, gibt es nach Ansicht von Menschenrechtsgruppen dennoch verschiedene Möglichkeiten, dagegen vorzugehen.

In den USA wurde im März 2023 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet und die Bundespolizei FBI hat eine Sondereinheit ins Leben gerufen, die sich mit solchen Fällen befasst. In Europa scheint es so etwas noch nicht zu geben, aber die örtliche Polizei informiert und unterstützt politische Aktivisten, von denen sie glaubt, dass sie in Gefahr sind.

Es brauche aber auch Sonderberichterstatter bei den Vereinten Nationen zu diesem Thema, fordert Gorokhovskaia, sowie mehr Informationen für europäische Botschaften, an die sich Dissidenten wenden könnten, eine bessere Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Strafverfolgungsbehörden und die Unterstützung der Zivilgesellschaft. 

Ein weiteres Problem sei, dass "Dissidenten in der Region oft  nicht ins relativ sichere Europa kommen können. Die Frage ist, wie wir den Menschen helfen können, die in diesen autoritären Ländern gefangen sind."

So wie die Experten vom Freedom House wünscht sich auch der Hirak-Aktivist Agrawli, mehr politische Konsequenzen für die Länder, die regelmäßig transnationale Unterdrückung praktizieren. "Meine Freunde sind im Gefängnis", sagt er. "Wir würden uns wünschen, dass die deutsche Regierung stärker auf diese Art von Übergriffen reagiert, anstatt nur ihre großartigen bilateralen Beziehungen zu Marokko zu loben."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.