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"Ich empfinde ihre Angst"

Sabrina Pabst11. November 2015

Brücken bauen und zuhören sind die Aufgaben von Rabia Tayyeb. Als Dolmetscherin hilft sie traumatisierten Flüchtlingskindern beim seelischen Aufbau. Im DW-Interview spricht sie über Vergangenheit, Verlust und Vertrauen.

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Flüchtlinge in Slowenien (Foto: Reuters/S. Zivulovic)
Bild: Reuters/S. Zivulovic

Deutsche Welle: Wie schaffen Sie es, dass in der psychotherapeutischen Sitzung mit ihnen als dritte Person, eine Vertrautheit oder eine Atmosphäre entsteht, in der sich Patienten öffnen können?

Rabia Tayyeb: Die meisten Patienten, darunter viele Kinder und Jugendliche, sind sehr traumatisiert. Manchmal bedarf es keiner expliziten Therapiestunde, damit sie sich öffnen und mir erzählen, was sie auf ihrer Flucht erlebt haben. Sie sind sehr offen, sobald sie erfahren, dass jemand ihre Sprache versteht und ihnen zuhört. Für die Kinder hören sich ihre Traumata normal an. Viele Geschichten, die sie mir erzählen, hinterlassen manchmal auch bei mir Spuren. Dann bin auch ich psychisch belastet. An manchen Tagen kann ich dann nachts nicht in Ruhe schlafen, weil die Geschichten sehr traurig und erschütternd sind. Aber für die Kinder sind ihre Erfahrungen normal.

Kommen zu ihnen Kinder oder kleine Erwachsene?

Durch ihre Erfahrungen, die sie während ihrer Flucht machen müssen oder auch in ihrem Heimatland erlebt haben, werden diese Kinder schneller erwachsen. Auch, weil sie viel Verantwortung übernehmen müssen. Wenn ich meine Kinder mit Flüchtlingskindern vergleiche, liegen Welten dazwischen. Diese Kinder haben keine richtige Kindheit erlebt. Sie haben die Sorgen, die die Eltern haben. Sie empfinden die Ängste der Großen. Häufig sind diese Kinder jedoch ohne Begleitung ihrer Eltern und gänzlich auf sich gestellt.

Die Vertrautheit der Sprache hilft

Als Dolmetscherin sind Sie Vermittlerin und nicht die eigentliche Therapeutin. Ist es für die Therapie eher ein Vorteil oder hinderlich?

Ich bin in erster Linie eine Verbindung zwischen Therapeuten und Patienten. Das einzige Instrument, was man hat, um diese Therapie zu ermöglichen, ist die Sprache. Aber häufig werde ich während der Sitzung mit einem Co-Therapeuten verwechselt. Das hängt damit zusammen, weil die meisten Patienten das Gefühl haben, dass ich ihre Sorgen besser verstehen kann. Natürlich weil ich ihre Sprache spreche, aber auch weil ich ihre Situation aus eigener Erfahrung besser kenne. Eine Therapie ohne Dolmetscher ist für Patienten, die kein Deutsch sprechen, nicht möglich. Deswegen wünsche ich mir sehr, dass man in Zukunft auch solche Angebote für Erwachsene anbietet, weil die Eltern sind genauso traumatisiert sind.

Dennoch kommt es zu Situationen, in denen den Patienten meine Rolle nicht klar genug ist. Wenn ich sie frage, warum ihre Situation als Frau in Afghanistan schwierig sei, stelle ich ihnen aus ihrer Sicht eine ungewöhnliche Frage. Sie gucken mich dann mit großen Augen an und denken, dass müsste ich doch wissen! Sie merken nicht, dass es sich um die Übersetzung einer Frage der Therapeuten handelt. Sie setzen voraus, dass es für mich - als jemand, der auch aus Afghanistan kommt und auch die Sprache spricht - doch selbstverständlich sein sollte, die Antworten zu kennen.

Rabia Tayyeb von Children of Tomorrow Porträt (Foto: Rabia Tayyeb)
Dolmetscherin Rabia Tayyeb spendet auch in schwierigen Stunden ein Lächeln und macht Flüchtlingskindern MutBild: privat

Sie selber kommen aus Afghanistan und sind damals als 14-jähriges Mädchen mit ihrer Familie geflüchtet. Sie haben ähnliche Stationen durchlaufen, wie die Patienten, die sie betreuen. Mit welchen Gefühlen verlassen Sie diese Sitzungen?

Ich kann alles genau nachvollziehen. Für jemanden, der noch nie in Afghanistan war, hören sich die Geschichten vielleicht sehr traurig an. Für mich steckt hinter diesen Geschichten, die ich übersetze, eine andere Vorstellung. Ich kann genau nachempfinden, wie sich jemand in den geschilderten Situationen gefühlt hat. Wenn jemand über seine Ängste, Sorgen und Ungewissheit spricht, kann ich diese Gefühle gut nachvollziehen. Als wir damals in Deutschland ankamen, wussten wir nicht, wie es weitergeht. Diese Ängste sind mir sehr vertraut und bekannt. Zum Teil kann ich diese Gefühle auch noch spüren. Manche Therapiegespräche gehen mir sehr nahe. Ich höre aber auch viele Erfolgsgeschichten. Das gibt Hoffnung.

"Ich kann es nachempfinden"

Wie ist es für Sie, wenn Kinder Ihnen ihre Fluchterfahrungen schildern, die Sie selber als Kind machen mussten?

Ich bin selber Mutter von zwei Kindern und wenn Kinder betroffen sind, geht es mir immer sehr nahe. Ich bin tatsächlich drei, viermal in Therapiesitzungen in Tränen ausgebrochen. Ich konnte keinen Satz mehr rausbringen. Ich habe nur noch geweint, weil die Geschichten so erschütternd waren. Das war unangenehm, weil ich die Verbindung herstellen muss zwischen Patient und Therapeut. Häufig nehme ich die Geschichten mit und denke unterwegs darüber nach. Gerade, wenn es um Kinder geht, die misshandelt wurden - das sind Schicksale, die mich wochenlang beschäftigen. Auf der einen Seite ist es für sie eine Erleichterung, es erzählen zu können. Auf der anderen Seite ist es für mich eine enorme Belastung, damit umzugehen. Für viele Patienten sind die Geschichten so real und so nah. Für sie sind ihre Erlebnisse ganz normal.

Ich bin auch nur ein Mensch mit Gefühlen. Ich komme aus diesem Land und habe am eigenen Leib erfahren, wie es sein kann am Anfang hier fremd zu sein, sich hier zu Recht finden zu müssen und Orientierung zu suchen. Wenn ich 14 oder 15-jährige Mädchen sehe, die mir sagen, sie hätten Angst, die Schule nicht zu schaffe, die Sprache sei so schwer, dann sind mir die Bilder meiner eigenen Jungend in Deutschland wieder präsent. Dann frage ich den Therapeuten, ob ich etwas von mir erzählen darf, weil das Mut spendet. Die Kinder glauben nicht, dass ich es damals auch so schwer hatte; dass auch ich ein ähnliches Schicksal zu bewältigen hatte. Die Schwierigkeiten von Flüchtlingen heute unterscheiden sich nämlich kaum von denen vor 25 Jahren.

Rabia Tayyeb begleitet als Dolmetscherin Therapiesitzungen für geflüchtete Kinder und Jugendliche aus Afghanistan. Sie arbeitet für die Stiftung "Children for Tomorrow", die sich für traumatisierte Flüchtlingskinder einsetzt. Mehrere Tage in der Woche ist sie dafür in dem Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf im Einsatz. Das Therapeutenteam von "Children of Tomorrow" ist der Flüchtlingsambulanz angeschlossen und arbeitet mit Kindern und Jungendlichen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, Ghana und Eritrea. Derzeit befinden sich über 200 Kinder auf der Warteliste für einen Therapieplatz.

Das Gespräch führte Sabrina Pabst.