Triumph des "Genscherismus"
9. September 2015An diesem Tag, für diesen Mann, wirkt kein Superlativ übertrieben: Als "Architekt der Einheit" wird Hans-Dietrich Genscher am Mittwoch in der Berliner Zentrale der Freien Demokraten (FDP) gefeiert. Eine "Sternstunde der Diplomatie" sei der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland gewesen. So lautet der amtliche Titel jener Vereinbarung, mit der die Siegermächte und die Verlierer des Zweiten Weltkriegs nach 45 Jahren das Ende der deutschen Teilung besiegeln. Für die Bundesrepublik unterzeichnet Genscher am 12. September 1990 den epochalen Zwei-plus-Vier-Vertrag, wie er inoffiziell heißt.
Ein Vierteljahrhundert später wird der inzwischen 88-Jährige auf die Bühne des Thomas-Dehler-Hauses geschoben. Genscher sitzt im Rollstuhl und lässt die Huldigungen seiner liberalen Familie mehr über sich ergehen, als dass er sie genießt. Zwar stand der große alte Mann der deutschen Außenpolitik in Zeiten des Kalten Krieges oft und lange im Rampenlicht, gesucht hat Genscher die Scheinwerfer aber nie. Vielmehr richteten sie sich immer automatisch auf ihn. Das ist auch 23 Jahre nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik noch so. Mit seinem Namen sind Meilensteine der Entspannungspolitik verknüpft. Die FDP erinnert während der Feierstunde mit einer bebilderten Zeitleiste daran. Sie beginnt mit der am 1. August 1975 in Helsinki unterzeichneten Schlussakte zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und endet mit der ersten Bundestagswahl im vereinten Deutschland am 2. Dezember 1990.
Genschers Ostpolitik weckt viel Argwohn
In der Zwischenzeit, aber auch schon lange davor engagiert sich Genscher als "Entgifter des Ost-West-Verhältnisses". Mit dieser Formulierung würdigt der 1979 geborene FDP-Vorsitzende Christian Lindner die Verdienste des von 1974 bis 1992 amtierenden Außenministers. Die von Genschers Liberalen und den Sozialdemokraten Ende der 1960er Jahre eingeläutete neue Ostpolitik erweckt nicht nur den Argwohn der westlichen Alliierten. Auch die Konservativen im eigenen Land wittern die Gefahr eines deutschen Sonderwegs und einer Hinwendung Richtung Moskau. Vor diesem Hintergrund mutet das Zustandekommen des Zwei-plus-Vier-Vertrags fast wie in Wunder an. Denn die Skepsis ist auch 1990, ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer, weiterhin groß.
Vor allem die britische Premierministerin Margaret Thatcher fürchtet sich vor einem wiedervereinten Deutschland. In dieser Phase hängt das Ende der deutschen Teilung am seidenen Faden. "Genscherismus" ist damals ein in London, aber auch andernorts kultiviertes Schimpfwort. Doch allen rhetorischen Attacken und diplomatischen Querschüssen zum Trotz gelingt es Genscher, die Bedenken zu zerstreuen. Allerletzte Zweifel sind allerdings erst ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags beseitigt. Am 4. März 1991 ratifiziert die Sowjetunion als letzter Vertragsstaat das historische Dokument. Es ist der endgültige Triumph des "Genscherismus".
"Unser Volk ist ein Volk des guten Beispiels geworden"
Heute klingt diese einstige Schmähvokabel wie eine Ehrenbezeichnung. Und der, dem sie gebührt, erteilt seinen Nachfolgern auf dem diplomatischen Parkett ein paar Ratschläge. Als große Gefahr betrachtet Genscher die atomaren Waffenarsenale, die in falsche Hände geraten könnten. Als Lösung des Problems kommt aus seiner Sicht nur die weltweite Abschaffung in Frage. "Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange!" Mit Blick auf sein Lieblingsprojekt Europa mahnt er mehr Solidarität untereinander an. "Es wird uns Deutschen auf Dauer nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarn auf Dauer schlecht gehen würde." Und ganz aktuell hat Genscher für seine Landsleute unter dem Eindruck der überwältigenden Flüchtlingshilfe ein großes Lob parat: "Unser Volk ist ein Volk des guten Beispiels geworden."