Tschechien: Später Prozess um Schießbefehl an der Grenze
18. Mai 2023Vratislav Vajnar war zwischen 1983 und 1988 Innenminister der Tschechoslowakei. In seiner Amtszeit war die Grenze zwischen dem kommunistischen Ostblock und den westlichen Nachbarländern hermetisch abgeriegelt. Grenzschützer hatten den Befehl, auf Fliehende zu schießen, die in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Österreich gelangen wollten.
Nun, mehr als 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West, wird dem heute 92-Jährigen in Prag der Prozess gemacht. Er soll die Verantwortung tragen für Tote und Verletzte an der Grenze.
Es geht um mehrere konkrete Fälle, darunter einen Bürger der damaligen Tschechoslowakei, mehrere Bürger der DDR sowie einen Bürger der BRD, die im Grenzgebiet erschossen oder schwer verletzt wurden. Unter ihnen sind der Tscheche Frantisek Faktor, der 1984 getötet wurde, und die beiden Deutschen Hartmut Tautz und Johann Dick, die im Jahr 1986 starben.
Der Bundesbürger Dick befand sich nicht auf der Flucht, sondern wurde bei einer Wanderung entlang der Grenze auf bundesdeutschem Territorium erschossen. Tautz wurde von Hunden der tschechoslowakischen Grenzsoldaten zerfleischt, als er versuchte, bei Bratislava die Grenze nach Österreich zu überqueren.
Ex-Minister weist Verantwortung für Tötungen an der Grenze zurück
Der Ex-Minister Vajnar selbst bestreitet seine Schuld. "Ich habe die Aktivitäten der Grenzsoldaten nicht im Detail überwacht, ich hatte dafür einen Stellvertreter", sagte er lapidar gegenüber tschechischen Medien. Seine Verteidigerin fordert eine Einstellung des Verfahrens und begründet dies mit dem schlechten Gesundheitszustand ihres Mandanten.
Die Staatsanwältin Katarina Kandova wirft dem Angeklagten vor, nichts Konkretes unternommen zu haben, um den Schießbefehl an der Grenze aufzuheben. "Er hätte solche Maßnahmen ergreifen können, da er wusste, dass die CSSR an das Internationale Übereinkommen über bürgerliche und politische Rechte gebunden war, das nicht nur das Recht auf Leben beinhaltete, sondern auch das Recht, sein Land zu verlassen", sagte sie zu Prozessbeginn.
Kandova erinnerte in diesem Zusammenhang an die Verpflichtungen, die die Tschechoslowakei und andere kommunistische Staaten mit der Schlussakte der Konferenz von Helsinki über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Jahr 1975 eingegangen seien. Allerdings hielten die Ostblock-Staaten den Teil, der sich auf die Bürger- und Menschenrechte bezog, nie ein.
In Anbetracht des hohen Alters des Angeklagten fordert die Staatsanwaltschaft eine zweijährige Bewährungsstrafe und eine Geldstrafe von umgerechnet rund 4000 Euro.
"Es ist sicherlich eine Genugtuung, dass ein Organ des Staates, die Staatsmacht, laut und deutlich ausspricht, was hier passiert ist, und wer dafür verantwortlich war", erklärte Neela Winkelmann von der Plattform für das Gedenken und Gewissen Europas vor der Verhandlung gegenüber Medien. Die in Prag gegründete transnationale Organisation ist dem Gedenken an die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts verpflichtet und hatte 2017 Strafanzeige gegen Vajnar erstattet und damit den Prozess ins Rollen gebracht.
Kein Wille zur Aufarbeitung nach Fall des Kommunismus in der Tschechischen Republik
Ob es jedoch überhaupt ein Urteil geben wird, ist unklar. Vajnar selbst war bei der Eröffnung des Prozesses aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend. Das Gericht ordnete daraufhin eine Untersuchung seines Gesundheitszustands an und vertagte die Verhandlung auf August 2023.
Laut Historiker Milan Barta fehlte in der Tschechischen Republik nach dem Fall des Kommunismus der Wille, die Todesfälle an der Grenze aufzuarbeiten. Er verweist auch auf den Einfluss der Kommunistischen Partei (KSCM), die bis 2021 eine der stärkeren Parteien im Parlament war. Die Minderheitsregierung von Ministerpräsident Andrej Babis (2017-2021) regierte sogar mit Unterstützung der KSCM.
"Die Kommunisten spielten bis 2021 einfach eine wichtige Rolle im tschechischen politischen System", so Barta zur DW. "Erst als sie 2021 nicht mehr ins Parlament einzogen, konnten Strafverfolgungen eingeleitet werden." Der Historiker arbeitet am staatlichen Institut für das Studium totalitärer Regime (USTR) in Prag.
Deutschland pocht auf Aufklärung der Morde
Auch der Druck aus Deutschland, die Verantwortlichen für die Schüsse, bei denen deutsche Staatsbürger in der Tschechoslowakei starben, vor Gericht zu stellen, habe geholfen, so Barta weiter. In der Tschechischen Republik selbst habe sich die Öffentlichkeit dagegen relativ wenig für die Morde an der Grenze interessiert.
"Die Tschechen sind der Ansicht, dass diese Menschen allein über die Grenze gingen und wussten, dass es gefährlich ist", erläutert er. Der liberal-konservative tschechische Politiker Jiri Pospisil, ehemaliger Justizminister und heute Europaabgeordneter, sieht einen grundlegenden Unterschied zwischen den Mauerschützen-Verfahren in Deutschland Anfang der 1990er Jahre und der Lage in der Tschechischen Republik.
"In Deutschland ist man mit der kommunistischen Justiz ganz anders umgegangen als bei uns", sagt er der DW. "In der ehemaligen DDR verließen nach der Wiedervereinigung praktisch alle kommunistischen Richter den Dienst und wurden durch Richter aus dem demokratischen Westdeutschland ersetzt."
In Tschechien dagegen habe man die Justiz nur langsam erneuert. "Zugleich kam die Arbeit der Justiz in der Tschechischen Republik in den 1990er Jahren wegen des Mangels an Richtern fast zum Stillstand. Deutschland und Tschechien sind nicht vergleichbar, weil wir nicht über diesen Bestand an demokratisch ausgebildeten Richtern verfügten", sagt Pospisil. Vorwürfe, dass zwischen 2006 und 2012 politischer Druck auf ihn ausgeübt wurde, die Verbrechen des Kommunismus nicht zu verfolgen, bestreitet er.
Die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre hat nicht nur dazu geführt, dass die kommunistischen Verbrechen auf der tschechischen Seite des Eisernen Vorhangs nicht geahndet wurden. Es wurden im tschechischen Grenzgebiet sogar Denkmäler für kommunistische Grenzsoldaten restauriert, also für diejenigen, die Flüchtende erschossen hatten. Allerdings, so der Historiker Barta, glaube er, dass solche Dinge mit "der Generation der Menschen, die den größten Teil ihres Lebens im Kommunismus verbracht haben", verschwinden werden.