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Politik

Tschetschenen vor den Toren Europas

Kaja Puto | Gerhard Gnauck Brest/Warschau
14. Dezember 2016

Die meisten tschetschenischen Flüchtlinge, die versuchen über Weißrussland nach Polen zu gelangen, werden an der Grenze abgewiesen. Verstößt Polen damit gegen internationale Asylregeln?

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Polen Brest Flüchtlinge
Bild: A. Pikulicka-Wilczewska

Frischer Schnee liegt auf den Gleisen. Dicht gedrängt und schweigend sitzen die Reisenden am Morgen im Nahverkehrszug Brest-Terespol. Hinter dem Fenster gleiten Verkaufsbuden mit Aufschriften in russischer Sprache vorbei: billige Zigaretten, Wechselstuben, Parkplätze. Nur das Rattern der Waggons ist zu hören. "Ist das bereits Europa?", flüstert eine Frau. "Wir sind gleich da", antwortet ein Mann, der diese Strecke nicht zum ersten Mal fährt.

Brest ist der wichtigste Verkehrsknotenpunkt an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen. Früher war die Stadt das Tor der Sowjetunion in Richtung Westen. Schmuggelware aller Art passierte diesen Kontrollpunkt in beiden Richtungen. Ein eigenes Schmuggelkunst-Museum in Brest zeigt die in Jahrzehnten beschlagnahmten Werke: in zwei Teile zersägte Ikonen, kleinformatige Gemälde und wertvolles Porzellan.

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Warten auf den Zug - die letzten Wagen sind für Asylsuchende reserviertBild: A. Pikulicka-Wilczewska

Heute versuchen Tag für Tag Flüchtlinge, diese EU-Außengrenze zu überqueren. Im Sommer sollen laut polnischen und weißrussischen Medien bis zu zweitausend Tschetschenen in Brest auf eine Gelegenheit zur Einreise in die EU gewartet haben. Auch jetzt im Dezember sind im Bahnhofsgebäude viele ausreisewillige Tschetschenen anzutreffen.

Polnisches Roulette

Aus Weißrussland ausreisen zu dürfen bedeutet aber noch nicht, von Polen hineingelassen zu werden. Nach etwa 20 Minuten Fahrt über den Grenzfluss Bug und durch unberührte Natur erreicht der Zug den polnischen Grenzbahnhof Terespol. Heute lässt der polnische Grenzschutz nur eine Familie aus Tschetschenien, sechs Personen, einreisen, worauf diese den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention beantragen kann. Die meisten müssen, wie jeden Tag, mit dem nächsten Zug zurückkehren.

Am Bahnhof in Brest werden sie von einer Schar wartender Frauen empfangen. "Sie haben meine Freundin reingelassen", freut sich Madina, eine Tschetschenin von etwa 50 Jahren (die Namen wurden von der Redaktion geändert). Sie starrt auf ihr Handy, in der Hoffnung, eine erste Nachricht von ihr "aus Europa" zu bekommen. Madina ist offenbar die Wortführerin in der Frauenecke im Wartesaal des Bahnhofs. Sie selbst hat auch mehrfach versucht, nach Polen einzureisen, aber diese "popytki" (russisch für: Versuche) unternimmt sie immer seltener: Inzwischen fehlt es ihr an Geld, immer neue Fahrkarten zu kaufen. Die Nächte verbringt sie im Bahnhof, gemeinsam mit mehreren Familien, die es sich nicht mehr leisten können, noch länger eine Wohnung zu mieten. Die Aufseherin im Wartesaal zwingt sie, im Sitzen zu schlafen, doch ansonsten ist sie ganz nett.

Flucht vor Hoffnungslosigkeit

Madina hat Schlimmeres erlebt: Während der Tschetschenienkriege in den neunziger Jahren floh sie ins benachbarte Inguschetien. Als ihre dortigen Verwandten sich zur Flucht entschlossen, wollte sie zurück in ihr Haus in Tschetschenien. "Aber da wohnte schon jemand", erzählt sie, "einer, der im Krieg auf der richtigen Seite gekämpft hatte. Ich ging zur Polizei. Aber ein paar Tage später zerrten mich zwei Männer an der Bushaltestelle in ein Auto. Sie fuhren mich aus der Stadt hinaus, warfen mich in den Straßengraben und drohten, mich umzubringen, wenn ich meine Aussagen nicht zurückziehen würde. Ich war völlig fertig. Gegen die Leute von Kadyrow hat niemand eine Chance, schon gar nicht eine einsame Frau."

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Asylsuchende gehen in Terespol zum Grenzübergang mit PolenBild: A. Pikulicka-Wilczewska

Auch der Journalist Ruslan hält die Lage in seiner Heimat, der russischen Teilrepublik Tschetschenien, für hoffnungslos. "So lange Putin an der Macht ist, gibt es zu Präsident Ramsan Kadyrow bei uns in Tschetschenien keine Alternative. Als bei uns Krieg war, war das Leben einfacher: Bomben fielen, aber die Menschen halfen sich gegenseitig. Jetzt aber leben die Menschen in ewiger Angst und wissen nicht mehr, wem sie vertrauen können. Folter ist in Tschetschenien an der Tagesordnung: für ein kritisches Wort, für die Sünden von Angehörigen, dafür, dass jemand in den neunziger Jahren auf der falschen Seite gekämpft hat."

Ruslan hat sich mit seiner Familie in Brest eine Wohnung in Bahnhofsnähe gemietet. Er hat bereits mehrere Einreiseversuche unternommen. "Wen sie reinlassen, ist ein Lottospiel. Manche versuchen es zwanzig, dreißig mal und schaffen es am Ende. Andere lassen sie beim ersten Mal rein. Mann oder Frau, ganz egal."

Verstößt Polen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention?

Inzwischen haben Polens Ombudsman für Bürgerrechte und polnische Menschenrechtsgruppen das Verhalten der polnischen Behörden unter die Lupe genommen. Aus ihren Berichten geht hervor, dass pro Tag in der Regel nur zwei bis drei Familien gestattet wird, einen Antrag als Flüchtling zu stellen, auch wenn weitere diesen Wunsch äußern. Etwa 90 Prozent der Einreisenden würden in Terespol zurückgewiesen. Demnach dauere die Befragung durch Grenzbeamten in russischer Sprache eine bis vier Minuten.

Aleksandra Chrzanowska von der Warschauer Hilfsorganisation "Vereinigung für juristische Intervention" beklagt, dabei würden auch Fangfragen gestellt. "Unser Eindruck ist: Wenn der Reisende auf die Frage, ob er in Polen arbeiten wolle, mit Ja antwortet, wird er als Wirtschaftsmigrant eingestuft und zurückgewiesen. Dabei hat doch die Bereitschaft zu arbeiten nichts mit dem Grund der Ausreise zu tun." Hilfsorganisationen fragen inzwischen, ob Polen mit diesem Vorgehen nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt.

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Asylbewerber und Reisende warten auf einen Zug nach Terespol.Bild: A. Pikulicka-Wilczewska

Immerhin konnten bis Ende Oktober 2016 6573 Tschetschenen in Terespol Anträge stellen, dazu einige hundert weitere an anderen Orten in Polen. Diese von den Behörden genannte Zahl liegt unwesentlich höher als im vorigen Jahr. Deutlich gestiegen ist jedoch die Gesamtzahl der Reisenden, die in Terespol zurückgewiesen wurden: von knapp 19.000 im Vorjahr auf über 78.000 im Jahr 2016. Ein großer Teil davon dürften Tschetschenen sein.

Leere Versprechen

In den neunziger Jahren hatte Polen zehntausende der muslimischen Tschetschenen aufgenommen, mehr als jedes andere EU-Land. Allerdings war ein großer Teil davon später in westeuropäische Länder weitergereist. Jetzt ist die Politik eine andere. Polens Innenminister Mariusz Błaszczak hatte, auf die Lage in Terespol angesprochen, schon im August gesagt, er werde einen Zustrom von Muslimen nicht dulden, und auch auf die Gefahr von "Terrorismus" verwiesen. "Wir werden dem Druck jener, die eine Migrationskrise hervorrufen wollen, nicht nachgeben. Polens Grenze ist dicht. In Tschetschenien gibt es keinen Krieg, anders als noch vor Jahren."

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Bahnhof Brest - für viele Flüchtlinge aus Tschetschenien die EndstationBild: A. Pikulicka-Wilczewska

Allerdings trifft Warschaus Politik der "dichten Grenzen" auch Menschen aus Kriegsgebieten. Seit dem Sommer versucht die katholische Kirche des Landes gemeinsam mit der Caritas, einen "Korridor" für zunächst 50 Flüchtlinge aus Syrien zu schaffen und diese aus dem Libanon zu Gemeinden und Familien nach Polen zu holen. Wie mehrere Bischöfe beklagt haben, blockiert die Regierung bis heute das Projekt, unter anderem unter dem Vorwand, eine wirksame "Sicherheitsüberprüfung" der Flüchtlinge sei nicht möglich.

Auch als Ende November 60 polnischstämmige Einwohner der Kriegsgebiete in der Ostukraine die polnische Regierung um Hilfe bei der Übersiedlung nach Polen baten, stießen sie auf taube Ohren. Und dies, obwohl die regierende Partei PiS im Wahlkampf ein Rückkehrerprogramm für polnischstämmige Bürger aus den östlichen Nachbarstaaten angekündigt hatte. Dagegen hatte die Vorgängerregierung in zwei Aktionen Familien aus dem Donbas nach Polen geholt. Jetzt will die von der liberalen Bürgerplattform regierte Stadt Posen sich um die 60 Ausreisewilligen kümmern.