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PolitikTürkei

Mesale Tolu und die Pressefreiheit

16. Januar 2022

Im Prozess gegen die deutsche Journalistin Mesale Tolu wird an diesem Montag in der Türkei das Urteil erwartet. Tolu geht von einem Freispruch aus. Doch für regierungskritischen Journalismus bleibt es schwierig.

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Bild: Reuters/K. Aslan

Mesale Tolu ist zuversichtlich. "Ich gehe davon aus, dass ich in beiden Anklagepunkten freigesprochen werde", sagt sie im Interview mit der DW. "Sollte dabei etwas anderes rauskommen, würde uns auch das nicht wundern", so die Journalistin weiter. Ihrer Ansicht nach sei die Justiz dort nämlich unberechenbar. Tatsächlich stehen ihre Chancen für einen Freispruch gut, denn der Staatsanwalt hat in seinem Plädoyer den Freispruch gefordert und die Experten gehen eher von einer sehr dünnen Beweislage aus. Als Vertreter des Deutschen Bundestages wird Max Lucks, Obmann für Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, den Prozess vor Ort beobachten. 

2017 in Istanbul festgenommen

Im April 2017 wurde Mesale Tolu in Istanbul mitten in der Nacht von schwerbewaffneten Antiterroreinheiten verhaftet. "Vor Augen meines Sohnes wurde ich gewalttätig festgenommen", erinnert sie sich noch heute. Mehr als sieben Monate hat die gebürtige Ulmerin im Gefängnis verbracht - fünf Monate davon mit ihrem damals zwei Jahre alten Sohn. 2018 konnte sie nach Deutschland ausreisen.

Tolu hatte seinerzeit als Übersetzerin für eine linke Nachrichtenagentur gearbeitet. Ihr und ihren Mitangeklagten wurden "Mitgliedschaft in einer linksextremistischen Terrororganisation und Terrorpropaganda" vorgeworfen.

Nun, fünf Jahre danach, will Tolu endlich abschließen, nach vorne blicken, sich voll und ganz auf ihre Arbeit als Redakteurin bei der Schwäbischen Zeitung konzentrieren.

"EU muss mehr Druck auf Türkei ausüben"

34 Journalisten in Haft

Tolu ist kein Einzelfall. Nach Angaben der türkischen Journalistengewerkschaft TGS sitzen derzeit 34 Journalisten in der Türkei hinter Gittern. Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, Beleidigung des Präsidenten oder Terrorpropaganda wird den meisten vorgeworfen.

Auch der Welt-Korrespondent Deniz Yücel und der Kölner Adil Demirci, der so wie Tolu für die Nachrichtenagentur Etha tätig war, saßen wegen ähnlicher Vorwürfe Monate lang im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul.

Erol Önderoglu
Erol Önderoglu Bild: Getty Images/AFP/O. Kose

Erol Önderoglu von Reporter Ohne Grenzen beobachtet in den letzten Jahren eine andere Entwicklung. Seiner Ansicht nach war die Türkei bis vor drei Jahren das größte Journalistengefängnis der Welt. In letzter Zeit aber lasse die türkische Justiz Journalisten überwiegend unter Auflagen frei - auf diese Weise sind sie zwar nicht physisch, aber geistig schon hinter Gitter verbannt. Im Interview mit der DW mahnt er daher, nicht nur auf die Zahlen zu schauen, wie viele Journalisten in Haft sitzen. Denn auch andere Instrumente würden häufig eingesetzt, Journalisten vom Ausüben ihres Berufes abzuhalten. Hierzu zählt Önderoglu den Entzug des Passes, die Verpflichtung zur regelmäßigen Meldung bei der Polizei, verschobenen Haftantritt, Verweigerung des Presseausweises oder die der Akkreditierung bei Veranstaltungen.

Verschlechterung seit Gezi-Protesten

Die Lage für Journalisten verschlechterte sich in der Türkei seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 dramatisch. Damals gingen Hunderttausende Menschen auf die Straße, leisteten Widerstand gegen die Pläne der Regierung, den beliebten Gezi-Park mitten im Herz von Istanbul, am Taksim-Platz, zu bebauen. Wer die Proteste unterstützte, musste mit Strafen rechnen, auch Journalisten. Hunderte von ihnen haben danach ihre Jobs verloren. Der zweite große Schlag gegen Pressefreiheit folgte unmittelbar nach dem versuchten Putsch am 15. Juli 2016. Seitdem wurden Hunderte Nachrichtenportale gesperrt, Dutzende Zeitungen und Fernsehsender geschlossen, zahlreiche Journalisten verhaftet.

Die Frauen der inhaftierten türkischen Journalisten

Laut EngelliWeb (ein Projekt vom Verein für Meinungsfreiheit, dass die gesperrten Webseiten erfasst), hat sich kaum etwas verändert. Ende 2020 waren mehr als 476.000 Domains, 150.000 Beiträge und 50.000 Tweets von der zuständigen Behörde gesperrt, teilen die Verantwortlichen von EngelliWeb mit. 

Arbeitslosigkeit bei mehr als 35 Prozent

Auch die Arbeitslosigkeit unter Journalisten nimmt seit Jahren stetig zu. Derzeit liegt sie bei mehr als 35 Prozent, so die Journalistengewerkschaft TGS Anfang des Jahres. Anlässlich des "Tages der arbeitenden Journalisten", der in der Türkei jährlich am 10. Januar begangen wird, kritisierte TGS erneut die Lage. Solange Journalisten keinen gerechten Lohn bekommen, unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten müssen, ihre Beiträge zensiert oder sie selbst zu Autozensur gezwungen werden, so lange 34 Journalisten in Haft sitzen und ihnen der Presseausweis verweigert bleibt, müsste der 10. Januar eigentlich als ein Tag des Kampfes gesehen werden, so die TGS weiter.

Gewalt nimmt zu

Gewalt gegen Journalisten nimmt auch weiter zu. Allein im vergangenen Jahr wurden 75 Medienvertreter angegriffen, so der Journalistenverband CGD. Zudem standen bei insgesamt 179 Prozessen 219 Journalisten vor Gericht, insgesamt wurden sie zu 48 Jahren und 11 Monaten Freiheitsstrafen verurteilt.

Auch dem in Berlin im Exil lebenden Journalisten Can Dündar drohen 27 Jahre und 6 Monate Haft bei einer eventuellen Rückkehr in die Heimat. Er ist in Istanbul wegen "Spionage und Terrorunterstützung" verurteilt worden.

Ein weiteres Instrument, die Presse zum Schweigen zu bringen, sind hohe Geldstrafen. Die türkische Medienaufsichtsbehörde RTÜK verhängte allein 2021 insgesamt 74 Geldstrafen gegen nationale Sender, die der AKP-Regierung die Treue verweigern. Der Sender Halk TV wurde 24 Mal zu hohen Bußgeldern verurteilt; Tele 1 genau 22 Mal, Fox TV 16 Mal, KRTV 8 Mal, Habertürk 4 Mal. Insgesamt in Höhe von 22 Millionen Türkische Lira, umgerechnet mehr als 1,5 Millionen Euro. Eine enorme Summe für diese Sender, die durch ständige Prozesse angeschlagen sind und kaum Werbeeinnahmen generieren können. Denn die Wirtschaft fürchtet um Konsequenzen, wenn sie Werbung bei diesen Sendern schalten würde. Die amtlichen Bekanntmachungen und Werbungen der Ministerien fließen sowieso in die Kassen regierungsnaher Medien, deren Inhaber gleichzeitig Empfänger der staatlichen Großaufträge sind.

Journalisten zu Terroristen erklärt

Sezgin Tanrikulu (Foto: Archiv)
Sezgin Tanrikulu (Archivfoto)Bild: Getty Images/AFP/O. Kose

Für Sezgin Tanrikulu, Menschenrechtsanwalt und Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP, haben Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit in den vergangenen Jahren eine neue Dimension erreicht. Wer sich der türkischen Regierung nicht unterwerfe und versuche, unabhängig zu berichten, werde sofort zum "Terroristen" erklärt. 

Die türkische Regierung dagegen behauptet, dass die Pressefreiheit unter der AKP ihre Blütezeit erlebt. Anlässlich des Tages der arbeitenden Journalisten schrieb Fahrettin Altun, Kommunikationschef des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Medien profitierten in den letzten 20 Jahren von der Entwicklung in verschiedenen Bereichen, von Demokratie bis hin zur Technologie, und das mache sie sehr zufrieden.

Allerdings profitieren die türkischen Medienhäuser von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei nur, wenn sie auf Regierungslinie sind, und zu bis zu 90 Prozent liegen sie in der Hand regierungsnaher Unternehmen.

Es war immer das Ziel der türkischen Regierung, betont auch Tolu, eine regierungstreue Medienlandschaft zu schaffen. Glücklicherweise gebe es weiterhin viele Journalisten, die unabhängig arbeiten, wenn auch nicht in den Mainstream-Medien. Dennoch gebe es diese mutigen Menschen, die mit allen Möglichkeiten versuchen, weiterhin darüber zu berichten, was im Land wirklich passiert.

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas