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Tunesien: Harsche Kritik an Maßnahmen gegen Migranten

Kersten Knipp | Tarak Guizani Tunis
19. Oktober 2024

UN-Experten kritisieren schwere Menschenrechts-Verstöße tunesischer Sicherheitsbehörden gegenüber Migranten. Es sind nicht die ersten Vorwürfe dieser Art. Auch die Kooperation Tunesiens mit der EU steht in der Kritik.

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Tunesien ist nicht sicher: Proteste von Migranten aus Subsahara-Afrika vor dem UNHCR-Büro in Tunis. Die Demonstranten tragen Plakate mit der Aufschrift "Tunisia is not safe".
"Tunesien ist nicht sicher": Proteste von Migranten aus Subsahara-Afrika in TunisBild: Hasan Mrad/Zumapress/dpa/IMAGESLIVE /picture alliance

Die UN-Experten wählten eine deutliche Sprache: Sie hätten aus Tunesien "schockierende Berichte" über Menschenrechtsverstöße gegen Migranten erhalten, schrieben sie in einer kürzlich veröffentlichten Erklärung.

Es gebe seitens der tunesischen Behörden "gefährliche Manöver beim Abfangen von Migranten, Flüchtlingen und Asylbewerbern auf See", heißt es in der Stellungnahme weiter. Dabei setze die Küstenwache des nordafrikanischen Landes auch Schläge oder Schusswaffen ein und bringe Boote vorsätzlich zum Kentern.

"Schläge und Schusswaffen"

Bei so genannten Abfangaktionen sollen demnach allein zwischen Januar und Juli 265 Menschen durch Abfangaktionen ums Leben gekommen sein; weitere 189 seien bei der Überfahrt gestorben. Zudem gelten 95 Menschen als vermisst. Auch bei Überführungen von Migranten in die Grenzgebiete zu den Nachbarländern Algerien und Libyen kam es Angaben der Experten zufolge zu Menschenrechtsverletzungen. Von der Küstenwachse zurück an Land gebracht Personen würden ohne die Bereitstellung von humanitärer Hilfe ins algerische oder libysche Grenzgebiet zwangsdeportiert. Dabei werde "übermäßig" Gewalt angewendet. Dem Bericht zufolge werden auch schwangere Frauen und Kinder in Wüstengebiete an der Grenze gebracht. Wer versuche umzukehren, werde von Grenzschützern beschossen. Besonders gewalttätig gingen die tunesischen Behörden gegen Menschen aus der Subsahara-Region vor, so die UN-Experten.

Unterzeichnet haben die Erklärung die UN-Sonderberichterstatter für Menschenhandel, Rassismus, Migrantenrechte sowie mehrere Menschenrechts-Anwälte. Diese werden als unabhängige Experten vom UN-Menschenrechtsrat beauftragt, die Menschenrechtslage zu beobachten. Sie sprechen aber nicht im Namen der Vereinten Nationen selbst.

Eine Stellungnahme der Behörden gegenüber der DW steht bisher noch aus. In der Vergangenheit hat Tunesiens Regierung solche und ähnliche Vorwürfe mehrfach zurückgewiesen, allerdings werden sie von Menschenrechtlern inzwischen fast regelmäßig erhoben. Die EU hat Tunesien bereits vor mehreren Wochen zu einer Untersuchung aufgefordert, bisher jedoch ohne Erfolg.

Der Experten-Bericht legt die Vermutung nahe, dass die tunesischen Behörden systematisch und auf mehreren Ebenen gegen Migranten vorgehen. So würden auch Hilfsorganisationen an ihrer Arbeit gehindert, heißt es in dem Bericht. Angesichts dieser "schweren Vorwürfe" - so der Bericht - kritisierten die Experten, dass Tunesien von EU-Ländern als sicheres Herkunftsland gesehen werde.

Unter dem kürzlich wiedergewählten Staatspräsidenten Kais Saied, der laut Kritikern zunehmend autoritär regiert und demokratische Rechte immer weiter einschränkt, hatte sich die Politik gegenüber Migranten erheblich verschärft. Saied selbst hatte sich wiederholt despektierlich über Migranten geäußert. Das Thema Migration beschäftigt auch die tunesischen Wähler.

Hetze gegen Migranten aus Subsahara

Migranten bestätigen Vorwürfe 

Die DW hat mit einigen Migranten in Tunesien gesprochen. Ihre Schilderungen bestätigen im Wesentlichen die Schilderungen der UN-Experten. Als seine Gruppe mit ihrem Boot in die Nähe der tunesischen Küste gekommen sei, habe das Schiff der Sicherheitsbehörden gefährlich enge Kreise um sie gezogen, sagt etwa ein Flüchtling aus Burkina Faso, der seinen Namen nicht öffentlich nennen will. Später im Flüchtlingslager hätte die Polizei den Migranten ihre Handys sowie wiederholt auch Essen abgenommen. "Selbst die Decken hat die Polizei verbannt. Schließlich haben sie sogar unsere Unterkünfte zerstört."

Ähnliches berichtet ein Migrant aus Guinea, der ebenfalls anonym bleiben will. Immer wieder würde seine Gruppe angegriffen, sagt er im Gespräch mit der DW. "Sie dringen in unsere Unterkunft ein, sie stehlen unsere Handys, unser Geld, alles."

Migranten in der tunesischen Küstenstadt Sfax, Februar 2023
Migranten in der tunesischen Küstenstadt Sfax, Februar 2023Bild: Fethi Belaid/AFP

EU-Kooperation mit Tunesien

Die EU und Tunesien hatten im Juli 2023 einen Migrationspakt vereinbart, den beide Seiten nach einem Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in dem Land schlossen. Dieser sieht seitens der EU umfassende Hilfen für Tunesien vor, aber auch 105 Millionen Euro für den Grenzschutz. Zu dessen Aufgaben gehören unter anderem die Küstenwache und die Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer. 

Ziel der tunesischen Behörden sei es, die Migrantenströme in Richtung des nördlichen Mittelmeerufers zu reduzieren und ihr Engagement für das umfassende 'Memorandum of Understanding' mit der Europäischen Union zu demonstrieren, sagt Romdhane Ben Amor, Menschenrechts-Aktivist vom "Tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte". "Wir dürfen nicht vergessen, dass Tunesien für die Jahre 2024 und 2025 italienische und europäische Hilfe in Form von Ausrüstungs- und Treibstoffkosten für Einsätze auf hoher See erhalten hat", so Ben Amor im DW-Gespräch. 

Harter Kurs gegen Migranten: der tunesische Staatspräsident Kais Saied
Harter Kurs gegen Migranten: der tunesische Staatspräsident Kais SaiedBild: Fauque Nicolas/Images de Tunisie/ABACA/picture alliance

Kritik von Menschenrechtsorganisationen

Die Zusammenarbeit zwischen der EU oder einzelnen EU-Mitgliedstaaten und Tunesien bei der Migrationskontrolle wird von Menschenrechtsorganisationen schon seit längerem vehement kritisiert. Diese trage zu Menschenrechtsverletzungen bei, hieß es erst Anfang Oktober wieder in einer veröffentlichten Stellungnahme zahlreicher Hilfsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch: "Die europäische Politik, das Grenzmanagement nach Tunesien auszulagern, unterstützt Sicherheitsbehörden, die schwere Verstöße begehen", heißt es in dem Papier. 

Die von der Europäischen Kommission geforderte und unterstützte Kooperation mit Tunesien laufe "Gefahr, die Menschenrechte zu verletzen anstatt die Sicherheit der Migranten auf See zu gewähren", heißt es in dem Papier. Die Menschenrechtsorganisationen benennen im Weiteren mehrere Fälle von kritikwürdigen Behörden-Einsätzen, die den Vorwürfen der UN-Experten ähneln.

Migranten litten in Tunesien auch unter anderen fragwürdigen Maßnahmen, sagt Romdhan Ben Amor: "Tunesien setzt seit August 2023 auch auf andere Lösungen wie etwa die automatische Abschiebung von Migranten bei ihrer Rückkehr auf dem Seeweg an die Grenzen zu Libyen und Algerien."

Zu entsprechenden Vorwürfen hatte sich ein namentlich nicht genannter Sprecher der EU-Kommission bereits Ende September geäußert. "Als Partner Tunesiens erwarten wir, dass diese Fälle ordnungsgemäß untersucht werden", sagte der Sprecher dem Internet-Magazin Euractiv. Laut dem anonymen Sprecher plane die EU, eine unabhängige Überwachungsmission in Tunesien einzurichten. Ob Tunesiens Regierung dem zustimmen wird, bleibt freilich abzuwarten.

Menschenschmuggel hat Hochkonjunktur in Tunesien

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien