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Turnstar Simone Biles - aus mentalem Tief auf den WM-Gipfel

Jonathan Harding
5. Oktober 2023

Mit 26 Jahren gilt Simone Biles bereits jetzt als die größte Turnerin der Geschichte ihres Sports. In Antwerpen gewann sie ihr 20. WM-Gold. Ein unglaubliches Comeback.

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Simone Biles lächelt nach einer gelungenen Übung bei der der Turn-WM in Antwerpen und reckt die Arme hoch.
Simone Biles präsentiert sich bei der Turn-WM in weltmeisterlicher FormBild: Takuya Matsumoto/AP/picture-alliance

Ein höherer Schwierigkeitsgrad beim Sprung geht kaum: Erst einen Jurtschenko, eine Radwende vor dem Sprungbrett, dann ein gebückter Doppelsalto rückwärts in den Stand. Diesen bislang noch nie gezeigten Sprung, absolvierte US-Turnstar Simone Biles bei den Turn-Weltmeisterschaften in der belgischen Hafenstadt Antwerpen schon in der Qualifikation und bewies damit ihre außergewöhnliche Klasse.

Als "Biles II" wird der Sprung künftig im Regelwerk erscheinen, weil bereits ein anderer von ihr kreierter Sprung ihren Namen trägt. Außerdem hat die Amerikanerin in ihrer Karriere zwei Turnelemente am Boden und eines am Schwebebalken erfunden, die ebenfalls nach ihr benannt sind.

Wenige Tage, nachdem sie den "Biles II" gestanden hatte, verhalf die viermalige Olympiasiegerin den USA zu Gold im Mannschaftsfinale - auch wenn sie ihren revolutionären Sprung in diesem Wettkampf nicht zeigte. Es war der 20. WM-Titel ihrer Karriere. Damit ist Biles die mit Abstand höchstdekorierte Turnerin in der Geschichte der Weltmeisterschaften.

In Antwerpen hatte sie vor zehn Jahren ihre ersten beiden WM-Goldmedaillen gewonnen. "Es ist anders, aber es ist aufregend", sagte Biles nach dem Mannschaftstitel. "Ich bin nicht mehr 16, ich bin 26 - alles fühlt sich anders an."

Traumata aufgearbeitet

Die Leistungen von Antwerpen wären für sich genommen schon bemerkenswert genug, doch im Kontext der vergangenen Jahre erscheinen sie noch viel unglaublicher. Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio zog sich Biles aus dem Einzel-Mehrkampf zurück - nach einem der berüchtigten sogenannten "Twisties". 

Während der Drehungen im Sprung verliert man die Orientierung. Folge ist eine mentale Blockade, das Gefühl, den eigenen Körper nicht mehr kontrollieren zu können. Ein solcher Aussetzer kann zu schweren Sturzverletzungen führen.

"Es ist, als würde man im Dunkeln in einem Schneesturm fahren und den Sinn für die Straße verlieren", sagte Carlin Anderson, ehemals selbst Turnerin und heute Leiterin der Sportpsychologie an der Universität von Minnesota, der DW. "Sie [Biles - Anm. d. Red.] könnte wirklich sterben - so ernst ist es." Der Weg zurück sei lang, so Anderson. "Man muss sich die Fertigkeit zurückerarbeiten, zunächst auf weichen Matten, ohne Drehungen, bis man langsam wieder die nötige Sicherheit hat."

Simone Biles und ihre Teamkolleginnen präsentieren nach dem Mannschaftswettbewerb ihre Goldmedaillen.
Mit dem Team-Gold von Antwerpen gewinnt Biles (vorne rechts) ihren 20. WM-TitelBild: Takuya Matsumoto/AP/picture-alliance

Doch das ist nicht Biles' einzige psychische "Baustelle": Sie gehört zu den zahlreichen Opfern des früheren US-Teamarztes Larry Nassar, der über Jahrzehnte minderjährige Turnerinnen sexuell missbrauchte. Nassar verbüßt eine lebenslange Haftstrafe. Und außerdem ist Biles eine schwarze Amerikanerin, aus einem Land, das noch immer mit Rassismus zu kämpfen hat und in dem Frauen weiterhin für ihre Gleichberechtigung streiten müssen.

Daher war es keine Überraschung, als der Turn-Superstar diesen Sommer auf Instagram einräumte, dass sie viel Hilfe brauche, um wieder auf die Beine zu kommen, geschweige denn, um wieder an Wettkämpfen teilnehmen zu können. "Eine Menge Therapie, einmal pro Woche fast zwei Stunden", schrieb Biles. "Ich habe so viele Traumata erlebt. Deshalb ist es ein Segen, dass ich einige dieser Traumata aufarbeiten und an der Heilung arbeiten kann."

"Es ist unglaublich"

Biles hatte sich nach den Spielen in Tokio eine fast zweijährige Auszeit vom Sport genommen. Während ihrer Wettkampfpause heiratete sie im vergangenen April den Football-Spieler Jonathan Owens. Seitdem trägt sie den Doppelnahmen Biles Owens.

Bei den US-Meisterschaften Ende August - drei Wochen nach ihrem Comeback - holte sich Biles den achten Mehrkampf-Titel ihrer beispiellosen Karriere, auch dies ein Rekord. In Antwerpen wurde Biles nach dem Gold mit dem Team auch noch Weltmeisterin am Boden und am Schwebebalken und gewann Silber im Sprung. 

"Es ist unglaublich", sagte Sportpsychologin Anderson über Biles' Comeback. "Wir sind Zeugen von etwas extrem Seltenem, etwas, das es vielleicht nie wieder geben wird." Biles habe nicht nur zu ihrer alten Topform zurückgefunden, sondern auch viel für die öffentliche Wahrnehmung mentaler Probleme getan, so Anderson: "Sie hat dazu beigetragen, dass die psychische Gesundheit im Sport als normaler Teil des Lebens anerkannt wird und dass Sportler auch Menschen sind, die ein Leben mit Traumata und Ängsten haben. Und doch haben sie das Zeug zum GOAT [Greatest Of All Times]."

Biles gilt schon jetzt als größte Turnerin aller Zeiten. Die Olympischen Spiele 2024 in Paris könnten das letzte Kapitel einer unglaublichen Comeback-Geschichte werden.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. Er wurde nach Biles' WM-Einzelmedaillen aktualisiert und mit den Aussagen von Sportpsychologin Anderson ergänzt.