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Türkei: Weniger deutsche Investitionen

14. Dezember 2022

Weniger Investition, mehr Stellenabbau und schlechtere Konjunkturentwicklung: Deutsche Firmen in der Türkei blicken pessimistisch ins Jahr 2023, in dem Wahlen stattfinden. Erdogan kandidiert erneut.

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Blick auf den Containerhafen in Izmir
Ein wirtschaftliches Zentrum in der Türkei: der Containerhafen in IzmirBild: picture-alliance/dpa/B. Wüstneck

Es war eigentlich ein Routine-Auftritt für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan am vergangenen Wochenende in Samsun, einer Stadt am Schwarzen Meer. Die Region ist Erdogans Heimat, da ist er zu Hause, da hat er immer die volle Unterstützung bekommen. Zumindest bisher. Nun gibt es immer mehr Anzeichen von Nervosität. Erdogan ist sich nicht siegessicher. Er rief in Samsun den allerersten Erfolg ins Gedächtnis, bei dem Frauen eine wichtige Rolle gespielt hatten. Die neuen AKP-Frauen von damals, oft mit Kopftuch. Sie gingen von Tür zur Tür, baten frustrierte Rentner, Hausfrauen, Konservative und Religiöse um Stimmen. Mit Erfolg. Auch dieses Mal will Erdogan auf die Frauen setzen. "Lasst keine Wohnung unbesucht. Eine Burg kann von innen erobert werden, wer kann das machen? Ja, ihr Frauen."

Weiter sagte der Präsident: "Mit eurer Unterstützung, um die wir nun zum letzten Mal bitten, werden wir das neue türkische Jahrhundert einläuten und dann den 'gesegneten' Staffelstab an unsere Jugend übergeben." Anscheinend will Erdogan auch diejenigen zurückgewinnen, die sich in den letzten Jahren wegen der angespannten politischen, vor allem aber wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, von der Regierungspartei AKP abgewandt haben. Nun bittet er sie zum allerletzten Mal um Vertrauen. Er braucht sie.

Eine türkische Frau mit Kopftuch schwenkt die Landesfahne
Erdogan setzt auf die Unterstützung der FrauenBild: Aris Messins/AFP/Getty Images

Die türkische Inflation bereitet Kopfzerbrechen

Denn Erdogan ist unter Druck. Der Anstieg der Inflation nimmt kein Ende; auch wenn sie zuletzt erstmals seit anderthalb Jahren nicht weiter gestiegen ist, liegt sie mit über 84 Prozent noch immer erschreckend hoch. Auch viele seiner Wähler leiden darunter. Und er weiß genau, dass die Verteuerung ihn um die Macht bringen könnte. Denn gerade er hat seinen Erfolg einer ähnlichen Wirtschaftskrise zu verdanken. Als die Wirtschaft 2002 am Boden lag, ging seine AKP als Sieger hervor, die nur ein Jahr zuvor gegründet worden war. Aus dem Stand gelang ihr damals die absolute Mehrheit.

Nun ist die Inflation wieder sehr hoch, nach offiziellen Angaben liegt sie bei knapp unter 85 Prozent. ENAG, eine unabhängige Gruppe von Wissenschaftlern, errechnet sogar mehr als 170 Prozent. Ein enormer Anstieg, insbesondere seit einem Jahr. Vor einem Jahr hat Erdogan sein Wirtschaftsmodell eingeführt, mit dem er durch Niedrigzinspolitik mehr Investitionen ins Land holen, die Wirtschaft ankurbeln und die Inflation bekämpfen wollte. Es ist kläglich gescheitert. Dennoch senkt die Erdogan-treue Zentralbank weiterhin den Leitzins, zuletzt auf neun Prozent, obwohl sie bei dieser Inflation das Gegenteil unternehmen und ihn drastisch erhöhen sollte.

Präsident Erdogan beim Anlauf der Serienproduktion des türkischen E-Autos TOGG
Präsident Erdogan beim Anlauf der Serienproduktion des türkischen E-Autos TOGG Ende OktoberBild: Murat Cetinmuhurdar/Turkish Presidency/HandoutAA/picture alliance

Die Existenzangst vieler Haushalte ist groß. Trotz Arbeit können viele Menschen nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Soziale Medien sind voll von Aufrufen von Bürgern, die um Spenden und Unterstützung bitten. Fast die Hälfte der Beschäftigten im Land arbeiten für den Mindestlohn und der beträgt derzeit umgerechnet gerade mal 300 Euro netto im Monat. Wer seinen Lohn bekommt, tauscht ihn sofort in Dollar oder Euro um. Die Angst vor dem weiteren Wertverlust der Lira ist groß.

Auch deutsche Firmen blicken mit Sorge in die Zukunft der Türkei

Der Wechselkurs bereitet auch deutschen Unternehmen in der Türkei große Sorgen. Laut der aktuellen Herbstbefragung der deutschen Auslandshandelskammer (AHK) wird er mit 74 Prozent weiterhin als größter Risikofaktor bewertet. Dem folgten mit 71 Prozent die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Frühjahr waren es nur 56 Prozent - eine deutliche Verschlechterung. 64 Prozent der deutschen Unternehmen am Bosporus erwarten auch eine schlechtere Konjunkturentwicklung. Bei der Frühjahresbefragung waren es noch 51 Prozent.

Einkaufswagen in einem türkischen Supermarkt
Die Inflation legt in der Türkei offiziell bei fast 85 ProzentBild: Emre Eser/DW

Ihre geschäftliche Lage dagegen halten 60 Prozent der Befragten trotz der angespannten Situation in der Türkei immer noch für gut. 38 Prozent bewerten sie als befriedigend, im Frühjahr war das 25 Prozent. Schlecht finden nur zwei Prozent der deutschen Firmen ihre geschäftliche Lage. 

Weniger Beschäftigung, mehr Stellenabbau, weniger Investitionen 

Die gedämpfte Konjunktur- und Geschäftserwartung bremsen die Beschäftigungspläne der deutschen Unternehmen eindeutig. Nur 22 Prozent planen, neue Mitarbeiter einzustellen. Im Frühjahr war es 39 Prozent. 16 Prozent der befragten Firmen gingen sogar vom Stellenabbau aus. Bei der vorletzten Befragung waren es nur sechs Prozent. Die Mehrheit der Unternehmen, 62 Prozent, geht von einem gleichbleibenden Beschäftigungsniveau aus.

Was die Investitionen angeht, hat Erdogans Wirtschaftsmodell deutsche Firmen anscheinend nicht überzeugt: 34 Prozent gaben an, ihre Investitionen sogar verringern zu wollen - im Frühjahr war es nur 25 Prozent. 19 Prozent visieren gar keine Investitionen an, obwohl die Mehrheit der deutschen Unternehmen die Türkei weiterhin für einen attraktiven Standort hält.

Thilo Pahl, Generalsekretär der Deutsch-Türkischen Handelskammer sagt im Interview mit der DW, dass nur zehn Prozent der Befragten von einer Verbesserung der türkischen Wirtschaft in den kommenden zwölf Monaten ausgehen. Ihm zufolge bekommen mittlerweile auch immer mehr deutsche Firmen in der Türkei die Folgen des Ukraine-Krieges zu spüren. Sie bekämen weniger Aufträge aus Europa.

Auch die Unberechenbarkeit der türkischen Wirtschaftspolitik ist ein Faktor, der deutsche Firmen unsicherer macht. Über Nacht wurde Anfang des Jahres der Zwangsumtausch der Exporterlöse der Firmen eingeführt. Zuerst mussten 25 Prozent der Einnahmen in Euro, US-Dollar und Pfund in türkische Lira umgetauscht werden. Im Frühjahr wurde dies auf 40 Prozent erhöht. "Was ist, wenn wir eines Morgens aufwachen und die Regierung den Zwangsumtausch vielleicht auf 75 Prozent erhöht hat? ", fragt Pahl und ergänzt, das mache den deutschen Firmen Sorgen.

Deutschland ist Handelspartner Nummer Eins für die Türkei

Deutschland ist der größte Handelspartner der Türkei. Nach Angaben der türkischen Statistikbehörde gehen die meisten Exporte aus dem Land nach Deutschland. Von Januar bis Oktober dieses Jahres sind die Ausfuhren um zehn Prozent gestiegen, erreichte das Handelsvolumen 17,5 Milliarden Dollar. Beim Import dagegen liegt Deutschland an vierter Stelle. Aus Deutschland hat das Land in den ersten zehn Monaten 8,1 Prozent mehr Waren bezogen. Das entspricht einem Handelsvolumen in Höhe von 19,3 Milliarden Dollar.  

Pinar Ersoy, Präsidentin der AHK Türkei, nennt einen weiteren Grund, der die Unternehmen beunruhigt: Die Sanktionen gegen Russland und die Folgen. "Sowohl türkische als auch deutsche Firmen beobachten die Entwicklung sehr aufmerksam", so Ersoy im Gespräch mit der DW. Dies drücke die Stimmung weiter.   

Die deutschen Auslandshandelskammer führen alle sechs Monate eine Befragung unter den deutschen Firmen im Ausland durch. In der Türkei haben sich an der aktuellen Herbstbefragung 80 von 346 Firmen beteiligt. 45 Prozent von den befragten Unternehmen beschäftigen mehr als 1000 Mitarbeiter, 29 Prozent zwischen 100 und 1000, 26 Prozent weniger als 100. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes gibt es in der Türkei rund 7700 deutsche Unternehmen bzw. türkische Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung.

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas