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PolitikEuropa

Türkei: Neuer Frauenmord - altes Problem

Daniel Derya Bellut | Hilal Köylü | Burcu Karakaş
24. Juli 2020

Der Mord an einer Studentin hat das ganze Land schockiert. Frauenrechtsorganisationen protestieren und fordern besseren Schutz vor Gewalt gegen Frauen. Doch Regierung und Polizei schauen weg.

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Großdemonstration in Istanbul: Nach der Ermordung der Studentin Pinar G. haben Tausende für mehr Schutz vor Gewalt gegen Frauen demonstriert
Bild: DHA

Brutale Gewaltexzesse an Frauen gehören zum traurigen Alltag in der Türkei. Doch kaum ein Frauenmord verursachte so große Empörung wie die Ermordung der 27-jährigen Studentin Pinar Gültekin. Die Frau aus der südwestlichen Provinz Mugla wurde offenbar von ihrem Ex-Freund im Streit verprügelt und anschließend erwürgt. Dann habe er versucht, die Leiche in einem nahegelegenen Waldstück zu verbrennen, berichtete der Geständige der Polizei. Als das misslang, habe er die Leiche in einer Mülltonne versteckt und mit Beton übergossen. Die Polizei war ihm dank Überwachungsbildern einer Tankstelle auf die Spur gekommen, darauf ist zu erkennen, wie er Benzinkanister in seinen Wagen lädt. Als Tatmotiv gab er bei der Polizei Eifersucht an.

Nach Angaben der Initiative "Wir werden Frauenmorde stoppen" wurden in der Türkei allein in diesem Juni 27 Frauen ermordet. Hinzu kommen 23 Todesfälle, bei denen Mord vermutet wird.

In mehreren Städten - vor allem im Westen des Landes - nahmen Aktivistinnen den Mord an Pinar Gültekin zum Anlass, um für mehr Schutz vor Gewalt gegen Frauen zu demonstrieren. Bei einer Demonstration in der Millionenmetropole Izmir griff die Polizei unerwartet ein. Als die Beamten einige Demonstrantinnen festnahmen, kam es zu Tumulten.

Polizeigewalt bei friedlicher Demonstration

Die Teilnehmerin Arzu Sert berichtet der Deutschen Welle, dass sie in Haft Gewalt durch die Polizei ausgesetzt gewesen sei: "Wir versammelten uns erst vor dem Kulturzentrum im Stadtteil Alsancak, um ein Pressestatement abzugeben. Als wir den Protestmarsch begannen, hielt uns die Polizei plötzlich mit Barrikaden auf. Anschließend wurden wir unrechtmäßig inhaftiert, geschlagen und misshandelt."

Frauenrechtsorganisationen organisieren Protest auf der Straße, sie fürchten weitere Rückschritte beim Schutz vor Gewalt gegen Frauen
Frauenrechtsorganisationen fürchten weitere Rückschritte beim Schutz vor Gewalt gegen FrauenBild: DHA

Anwälte und Rechtsanwälte äußersten sich entsetzt über den gewaltsamen Polizeieinsatz in Izmir. Es handele sich um ein Grund- und Freiheitsrecht, friedlich zu demonstrieren. Die Polizei habe sich gesetzeswidrig verhalten, kritisierte etwa die Rechtsanwältin Zeynep Tepegöz: "Die Ereignisse in Izmir deuten darauf hin, dass die Polizei unverhältnismäßig gewaltsam vorgegangen ist. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, Demonstranten auf den Boden zu drücken und zu schlagen."

Mehrere Frauenrechtsorganisationen betonten, dass der gewaltsame Polizeieinsatz am Dienstag symptomatisch für das gesamte gesellschaftliche Problem sei. Sie verweisen darauf, dass viele Frauen vor ihrer Ermordung bei der Polizei Schutz gesucht oder Beschwerde eingereicht hätten. Melek Önder von der Initiative "Wir werden Frauenmorde stoppen" sagte der DW, dass Polizisten, die Regierung und Staatsbeamten mehr für den Schutz von Frauen unternehmen müssten: "Es gibt Fälle, bei denen Opfer Dutzende Male Gewalt ausgesetzt waren, aber nichts passiert ist. Niemand hört ihre Schreie."

Erdogans Mitgefühl reine Heuchelei?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drückte auf dem Nachrichtendienst Twitter sein Mitgefühl aus: "Gestern wurden wir vom Schmerz überwältigt, als wir erfahren mussten, dass Pinar Gültekin von einem Bösewicht ermordet wurde. Ich verfluche alle Verbrechen gegen Frauen."

Frauenrechtlerinnen halten solche Aussagen für unglaubwürdig, besonders weil sich die türkische Regierung in der jüngeren Vergangenheit gegen die sogenannte Istanbul-Konvention positioniert hatte. Das Übereinkommen des Europarats aus dem Jahr 2011 soll Gewalt gegen Frauen, insbesondere häusliche Gewalt, eindämmen und die Gleichstellung von Mann und Frau stärken. Die Türkei unterzeichnete den Vertrag als erstes Land und ließ es als "Gesetz zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Familie" rechtlich verankern. 

Die Aktivistinnen sehen in der Umsetzung der Istanbul-Konvention ein wichtiges Mittel, um Gewalt gegen Frauen wirksam zu unterbinden. Die Unterzeichnerländer verpflichten sich, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, doch in der Praxis würden die Rechtsnormen der Istanbul-Konvention nicht angewandt. Auch die vorgesehenen Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen würden nicht realisiert. Bei den Demonstrationen diese Woche war das vor neun Jahren beschlossene Übereinkommen erneut ein zentrales Thema.

Feindbild Istanbul-Konvention

Doch es mangelt nicht nur offensichtlich an der Umsetzung. Weil streng religiöse Kräfte in der Istanbul-Konvention eine Gefahr für türkische Traditionen und Sitten sehen, wird das Abkommen zudem immer wieder öffentlich torpediert. Im Mai etwa bezeichnete die Frauenbeauftragte der islamisch-konservativen Saadet Partei (SD), Ebru Asiltürk, den Vertrag in einem Zeitungsbeitrag als "eine Bombe für die Familienstruktur". Der Vertrag gefährde "die finanzielle und moralische Integrität der Familie". Das Abkommen kollidiere mit Artikel 41 der Verfassung, der den "Schutz der Einheit der Familie" gesetzlich festlegt. Die Kündigung des Vertrags sei "die einzige Lösung", schlussfolgert Asiltürk.

In den sozialen Netzwerken bekam Asiltürk von vielen Nutzern Zuspruch: Auf Twitter verbreiteten Gegner der Istanbul-Konvention die polemische Botschaft, dass das Übereinkommen nur ein Versuch des Westens sei, die Türkei zu unterwandern.

Ein politischer Wille, Gewalt gegen Frauen nachhaltig zu bekämpfen, lässt sich auch von Seiten der türkischen Regierung nicht feststellen. Vorfälle wie in Izmir diese Woche ereignen sich in aller Regelmäßigkeit: Bereits am 25. November versammelten sich rund 2000 Frauen zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen in Istanbul, um gegen Frauenmorde zu protestieren - schon damals löste die Polizei die Veranstaltung mit Tränengas und Gummigeschossen auf.