Türkei: Es geht nicht nur um einen Regierungswechsel
5. Mai 2023In knapp einer Woche (14. Mai) werden in der Türkei ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt. Nach 20 Jahren geht der aktuelle Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht als klarer Favorit ins Rennen. Auch sein Wahlbündnis liegt in Umfragen hinter der Oppositionsallianz.
Welches politische System herrscht in der Türkei?
Seit ihrer Gründung 1923 war die türkische Republik laut Verfassung eine parlamentarische Demokratie. Doch nach dem Wunsch von Erdogan sollte dies geändert werden. Und so kam es, dass die Regierungspartei AKP mit der Unterstützung ihres ultranationalistischen Partners MHP dies 2017 umsetzte. Mit den Wahlen 2018 wurde dann die Einführung des Präsidialsystems vollzogen. Seitdem ist der Präsident das Staatsoberhaupt im Land, der auch der Regierung vorsteht. Das Amt des Ministerpräsidenten gibt es nicht mehr.
Der Staatspräsident wird für fünf Jahre vom Volk direkt gewählt und hat im neuen System weitreichende Kompetenzen. Er ernennt und entlässt die Minister und hohe Staatsbeamten nach seinem Ermessen und leitet auch das Kabinett. Die von ihm ernannten Minister können die Gouverneure und Staatsvertreter in den Provinzen und Landkreisen bestimmen, so dass der Präsident bis in die kommunale Verwaltung seinen Einfluss ausüben kann.
Das Staatsoberhaupt hat auch die Befugnis, Präsidialverordnungen zu erlassen und viele Posten in der Justiz, im Finanz- oder Bildungswesen zu besetzen. Auch die wichtigsten Ämter im Geheimdienst oder bei der mächtigen Religionsbehörde Diyanet unterstehen direkt dem Präsidenten.
Mit der Einführung des Präsidialsystems wurde auch das Gebot der Überparteilichkeit abgeschafft. Somit hat der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan den Vorsitz seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP beibehalten können. Seitdem gibt es kaum noch eine Trennung von Amt und Mandat.
Wer kandidiert bei der Präsidentschaftswahl?
Für die Präsidentschaftswahlen stehen vier Kandidaten zur Auswahl. Das Kopf-an-Kopf-Rennen werden sich aber der amtierende Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu liefern. Vielen Umfragen zufolge liegt der Kandidat des größten Oppositionsbündnisses Kilicdaroglu sogar vorn, was Erdogan und das Regierungslager zunehmend nervös macht.
Die Zustimmungswerte der anderen zwei Kandidaten pendeln jeweils zwischen 2 bis 6 Prozent. Ihre Kandidatur führt eher dazu, dass der Präsidenten erst nach der Stichwahl im zweiten Wahlgang feststeht.
Hat das Parlament eine Bedeutung?
Erdogan hat in seiner Amtszeit den Staatsapparat auf sich zugeschnitten, seine Kompetenzen stets ausgebaut.
Auch wenn mit der Einführung des Präsidialsystems die Zahl der Abgeordneten von 550 auf 600 erhöht worden ist, hat Erdogan das türkische Parlament in die Bedeutungslosigkeit verbannt. Es kann zwar weiterhin Gesetze beraten und verabschieden, dennoch hat das Regierungslager mit seiner dominierenden Mehrheit jedes Vorhaben der Opposition im Parlament blockiert und nur seine politische Agenda durchgedrückt. Auch die Forderungen der Opposition wie etwa die Gründung von Untersuchungsausschüssen nach großen Katastrophen oder Korruptionsvorwürfen hat die Regierung mit ihrer Mehrheit verhindert. Auf Anfragen der Opposition hat die Regierung in den meisten Fällen nicht einmal reagiert.
Derzeit sind vierzehn Parteien im Parlament vertreten, von denen viele mit Hilfe von Wahlbündnissen die Sieben-Prozent-Hürde überwinden konnten.
Welche Allianzen gibt es?
Bei den Parlamentswahlen spielen drei Wahlbündnisse eine entscheidende Rolle: Erdogans "Volksallianz", "Bündnis der Nation" vom größten Oppositionsblock und das von der prokurdischen HDP geführte "Bündnis für Arbeit und Freiheit".
Zu Erdogans Volksallianz gehören neben der AKP seit Jahren die ultranationalistischen MHP und BBP. Vor kurzem trat dem Bündnis auch "Die Neue Wohlfahrtspartei" bei, die von der islamistischen Milli-Görüs-Ideologie kommt.
Außerdem wird Erdogans Allianz unterstützt von der radikalen islamistischen prokurdischen Partei HÜDAPAR, die der Terrororganisation Türkische Hizbullah nahesteht. Auch mehrere mitgliederstarke orthodox-muslimische Gemeinden werben offen für Erdogan und sein Bündnis, weil sie unter dem Staatspräsidenten zahlreiche Privilegien genießen und diese sonst zu verlieren drohen.
Die größte Oppositionsallianz besteht wiederum aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien, die Kemal Kilicdaroglu hinter sich vereinen konnte. Als Präsidentschaftskandidat genießt unter weiten Teilen der Regierungskritiker Respekt. Auch das kurdisch-sozialistische "Bündnis für Arbeit und Freiheit" ist für Kilicdaroglu.
Treibende Kraft des dritten Bündnisses ist die prokurdische Partei HDP. Gegen sie läuft ein Verbotsverfahren. Tausende ihrer Mitglieder sitzen wegen Terrorvorwurf im Gefängnis, fast alle HDP-Bürgermeister wurden abgesetzt.
Ex-Parteichef Selahattin Demirtas, der seit sieben Jahren im Hochsicherheitsgefängnis sitzt, führt vom Gefängnis aus eine wirksame Kampagne gegen Erdogan und seine Regierung. Seine Botschaften schickt er durch seine Anwälte in die Öffentlichkeit, die zum Teil auch den Verlauf des Wahlkampfes bestimmen, vor allem wenn es um die Kurdenthematik geht.
Wie viele Wahlberechtigte gibt es?
Bei den Wahlen am 14. Mai sind nach offiziellen Angaben mehr als 64,1 Millionen Menschen stimmberechtigt. Davon leben über 3,4 Millionen im Ausland. Somit kommen Auslandsstimmen vom Gewicht her nach den größten türkischen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir an vierter Stelle. Im Ausland begann die Stimmabgabe bereits am 27. April.
Bei den Wahlen 2018 lag die Wahlbeteiligung in der Türkei bei mehr als 86 Prozent, im Ausland war sie bei rund 50 Prozent.
Mit rund 53 Prozent gewann Erdogan 2018 die Präsidentschaft in der ersten Runde, sein Wahlbündnis bekam fast 54 Prozent der gültigen Stimmen in der Türkei. Im Ausland waren Erdogan und sein Wahlbündnis erfolgreicher, beide erlangten bei Auslandstürken mehr als 60 Prozent.
Laut türkischer Wahlbehörde sind bei den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auch 167.000 Syrer wahlberechtigt. Gefolgt mit 23.000 aus Afghanistan, 21.000 aus dem Iran, 16.000 aus dem Irak und 6000 aus Libyen. Bis auf die prokurdische HDP treten alle Parteien mit dem Wahlversprechen an, Flüchtlinge so schnell wie möglich zurückzuschicken.
Wahlkampf und Rhetorik
Aufgrund der schweren Erdbeben im Februar und des Fastenmonats Ramadan hat der Wahlkampf dieses Mal spät begonnen. Erst seit einigen Wochen geht die größte Oppositionsallianz mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu in die Offensive.
Erdogan führt seinen Wahlkampf eher mit Eröffnungen staatlicher Großprojekte, wie die Vorstellung des ersten Flugzeugträgers oder der Einweihung des ersten Atomkraftwerkes auf türkischem Boden dank russischer Technologie. Aber auch vor Auftritten in Moscheehöfen macht er keinen Halt, gerne setzt er auch auf Fakenews.
Die Medien sind auf allen Kanälen voll und ganz auf Regierungslinie. Die Staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT und die Nachrichtenagentur Anadolu begleiten Erdogan und seine Verbündeten auf Schritt und Tritt. Diese haben in den vergangenen vier Wochen laut Opposition 3600 Minuten Sendezeit bekommen. Die Konkurrenz kam nur 42 Minuten lang vor - und wurde ausschließlich negativ dargestellt.