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Türkei: Ist Erdogans Atomkraft von Russland abhängig?

Burak Ünveren | Gülsen Solaker | Pelin Ünker
7. März 2024

Russland soll auch das zweite Atomkraftwerk der Türkei bauen. Präsident Erdogan sieht darin einen Schritt zur Energieunabhängigkeit, Experten befürchten das Gegenteil. Ihr Negativ-Beispiel: Deutschland.

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Bauarbeiten am Atomkraftwerk in Akkuyu mit mehreren Kränen
Akkuyu an der Mittelmeerküste ist das erste Kernkraftwerk auf türkischem Boden und gehört mehrheitlich RusslandBild: Sezgin Pancar/AA/Getty Images

"Die Türkei steigt nun auf in die Liga der Länder, die Atommacht besitzen."

Mit diesen Worten feierte Präsident Recep Tayyip Erdogan die Inbetriebnahme des ersten Reaktors im ersten Kernkraftwerk der Türkei im April 2023. Die Bauarbeiten im Kernkraftwerk Akkuyu in der südtürkischen Stadt Mersin laufen noch. Künftig soll das Werk etwa zehn Prozent des türkischen Energiebedarfs decken und mehr als zwölf Millionen türkische Verbraucher mit Strom versorgen, so offizielle Angaben. Etwa 20 Milliarden US-Dollar wurden bereits für den Bau investiert.

"Die größte Zusammenarbeit in der Geschichte der türkisch-russischen Beziehungen" - nach regierungsamtlicher Beschreibung - wird als türkische Erfolgsgeschichte zelebriert. Der erste von insgesamt vier Reaktoren in Akkuyu wurde 2023 kurz vor der Präsidentschaftswahl eröffnet - was viele Beobachtern als Wahlpropaganda sahen. 

Das erste Kernkraftwerk der Türkei gehörte ursprünglich zu 100 Prozent Russlands Staatskonzern Rosatom. Vertraglich wurde festgelegt, dass das Werk auch künftig mehrheitlich Russland gehören muss: "Der Gesamtanteil der russischen Unternehmen und Behörden darf nie weniger als 51 Prozent betragen", heißt es im Vertrag. Obwohl ursprünglich angekündigt wurde, dass die restlichen 49 Prozent der Aktien an türkische Investoren verkauft werden würden, ist dies bisher nicht geschehen.

Im Vorstand der Akkuyu Nükleer A.S. saß bislang nur ein Türke und dieser hat inzwischen gekündigt. Der Geschäftsmann Cüneyd Zapsu begründete seine Entscheidung damit, dass "seine Forderung nach Zugang zu physischen Meetings sowie Informationen und Dokumenten bezüglich Themen, die die Öffentlichkeit betreffen, nicht erfüllt wurde."

Ein zweites AKW in russischem Besitz

Das NATO-Mitglied Türkei strebt an, energiepolitisch unabhängiger zu werden. Das Land plant schon seit einigen Jahren den Bau eines zweiten Werks in der nordtürkischen Stadt Sinop an der Schwarzmeerküste - direkt gegenüber von Russland. Für das geplante Werk verhandelte die Türkei bisher mit den USA, Japan, Südkorea und Russland. Die Regierung in Ankara hat auch vor, ein drittes Werk zu bauen: in Igneada (Provinz Kirklareli), wenige Kilometer entfernt von der Grenze zur Europäischen Union. Dafür ist man mit China im Gespräch.

Nun scheinen die Pläne für das zweite Werk in Sinop sich zu konkretisieren: Auch dieses wird voraussichtlich in russischem Besitz sein.

"Präsident Erdogan drückte ganz deutlich aus, dass die Türkei die politische Entscheidung getroffen hat, für den Bau des neuen Kernkraftwerkes uns zu beauftragen", sagte Alexei Lichatschew, Generaldirektor von Rosatom, letzte Woche in der Staatsduma, dem russischen Parlament. Die türkische Seite reagierte bisher auf diese Aussagen nicht.

Bei seinem Treffen mit Putin in Sotschi lobte Erdogan im September 2023 das Projekt in Akkuyu und signalisierte den Wunsch einer weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit mit folgenden Worten: "Ich glaube, wir werden auch bezüglich des Kraftwerks in Sinop einen Schritt nehmen können."

Russischer Einfluss an beiden Meeren

Beobachtern zufolge wird ein solcher Schritt die Energieabhängigkeit der Türkei von Russland vertiefen und die schon schwierigen Beziehungen mit dem Westen weiter belasten.

Der emeritierte türkische Diplomat Mithat Rende ist der Meinung, dass Russland mit den Investitionen in die türkische Energieversorgung vor allem die Solidarität innerhalb der NATO untergraben möchte. Das Timing der Ankündigung Lichatschews soll ausgeklügelt kalkuliert sein, um die türkisch-amerikanischen Beziehungen zu schädigen, die eigentlich momentan wieder besser zu werden schienen.

Der Energieexperte Ali Arif Aktürk betont ebenfalls die strategische Bedeutung des Werks für Russland. "Das Ziel der Russen ist, nicht nur in Kernenergie zu investieren, sondern darin, in einem NATO-Land zu investieren", so Aktürk.

Maßgeblich ist die jeweilige Lage der beiden Werke: Akkuyu entstand an der Mittelmeerküste, das Sinop-Werk soll am nördlichsten Punkt des Landes an der Schwarzmeerküste gebaut werden. Experten weisen auf die Risiken hin, dass an zwei strategisch wichtigen Meeren neue Kernkraftwerke unter russischer Kontrolle entstehen. Aktürk fürchtet, dass Russland künftig mit seinen gesetzlichen Privilegien sogar verhindern könnte, dass Kampfschiffe in diesen Hafenstädten anlegen.

Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan im September 2023 in Sotschi
Auch seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges pflegen Putin und Erdogan eine freundliche Beziehung. Auch wirtschaftlich spielen ihre Länder eine wichtige Rolle füreinander.Bild: Alexei Nikolsky/AP Photo/picture alliance

Türkische Abhängigkeit steigt

Während westliche Länder momentan noch daran arbeiten, ihre Abhängigkeiten von der russischen Energie zu minimieren und ihre Energiesicherheit zu diversifizieren, setzt die Türkei weiterhin vor allem auf Russland.

Eines der Versprechen bei Akkuyu ist, dass die Türkei dank des Werkes energiepolitisch unabhängiger werden würde. Genau vom Gegenteil könne man aber reden, so Experten.

Seit dem Anfang des Ukraine-Krieges wurde die Türkei zu einem der wichtigsten Importeure russischer Energie. Aus diesem Grund darf die Türkei seit Beginn des Krieges bei russischen Produkten Rabatte bis zu 30 Prozent genießen. Laut einer Analyse der Nachrichtenagentur Reuters haben die türkischen Behörden und Unternehmen die Importe des russischen Erdöls erhöht und damit 2023 etwa zwei Milliarden US-Dollar gespart.

Die Türkei bezieht momentan etwa 40 Prozent des importierten Erdgases aus Russland. Den Daten der Vereinigung der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern (TMMOB) zufolge ist Russland der wichtigste Importpartner der Türkei, was Erdgas angeht. Etwa ein Viertel der gesamten Energie kommt aus Russland.

Den aktuellen Daten der Regulierungsbehörde des Energiemarktes (EPDK) zufolge stieg die Abhängigkeit der Türkei von Russland bezüglich Rohöl und Erdölprodukten inzwischen auf 68 Prozent. Dieser Anteil lag Ende 2022 noch bei etwa 41 Prozent.

Kernkraftwerk Akkuyu, Luftaufnahme
Experten bestreiten das Argument der türkischen Regierung, dass das Kernkraftwerk Akkuyu die Türkei energiepolitisch unabhängiger machen wirdBild: DHA

Negativbeispiel Deutschland

Diplomat Rende betont, dass das zweite von Russland gebaute Kraftwerk die Abhängigkeiten der Türkei verstärken würde. "Was wir eigentlich brauchen, ist ein nachhaltiger Energiekorb. Egal um welches Land es geht, ist es meiner Meinung nach keine kluge Politik, sich langfristig von einem einzigen Land so abhängig zu machen", so Rende. Er nennt das Beispiel Deutschland: "Die deutsche Industrie geriet in große Schwierigkeiten, nachdem der Ukraine-Krieg ausbrach."

Der Energieexperte Necdet Pamir bestätigt dies. "Bei Akkuyu ist die Türkei zu 100 Prozent abhängig von Russland. Das ist äußerst riskant. Unabhängig davon, von welchem Land man sich so abhängig macht, ist dies sowohl für die Energiesicherheit und die wirtschaftliche Sicherheit als auch für die Außenpolitik ein gigantisches Problem", so Pamir. Die Türkei schlage bezüglich der Energieversorgung den falschen Weg ein, so Pamir: "Man müsste eigentlich erneuerbare Energien fördern und die Energieeffizienz erhöhen. Stattdessen reden sie aber vom Bau weiterer Kernkraftwerke. Das ist falsch - schlicht und ergreifend falsch."

Abhängigkeit von russischen Importen statt Technologietransfer

Wie viele anderen Beobachter betont Rende, dass die Türkei dabei Schwierigkeiten hat, für ihre Kernkraftwerke Finanzierungsquellen zu finden. Rende meint, so gut wie kein Land auf der Welt würde unter heutigen Umständen in den Bau eines Kernkraftwerkes im Ausland investieren.

Auch findet vermutlich kein Technologietransfer von Russland zur Türkei statt: Das Uranium sowie alle notwendigen Materialien und Geräte werden aus Russland importiert. Nicht nur die Verarbeitungsfähigkeit fehlt der Türkei, sondern auch die Bodenschätze: Uraniumreserven gibt es in der Türkei so gut wie keine. Dieses Problem würde auch beim zweiten Kernkraftwerk in Sinop entstehen, betont Aktürk.

Es gibt viele unbeantwortete kritische Fragen, so Aktürk - einige betreffen den russischen Einfluss auf die Projekte, andere betreffen die Kernkraft als Energiequelle grundsätzlich: "Wird ein Technologietransfer stattfinden? Wo wird das Uran gelagert und wie viel? Wird es eine Strafe dafür geben, falls das Uran nicht rechtzeitig geliefert wird? Wie geht man mit der Entsorgung des Atommülls um?" Und Aktürk fügt noch eine Frage hinzu, die etwas rhetorisch wirkt:

"Können die Leute und Länder, die für das Projekt zuständig sein werden, überhaupt eine Kultur des Vertrauens bilden?"

Zusätzlich zum Kernkraftwerkbau möchte Putin die Türkei zu einem sogenannten "Gas-Hub" machen - sprich das russische Gas über die Türkei nach Europa exportieren. Erdogan findet die Idee gut. Nach den anstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland und den Kommunalwahlen in der Türkei, im Frühling, wird Putin die Türkei besuchen. Die Vertiefung der Energiezusammenarbeit wird dabei voraussichtlich ein Thema sein.

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.