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Türkei will soziale Medien strenger regulieren

Gulsen Solaker | Sevinc Onart
30. September 2022

Mit einem neuen Gesetz gegen "Fehlinformationen" will die türkische Regierung soziale Medien strenger regulieren. Kritiker fürchten, das Gesetz könnte gegen Oppositionelle missbraucht werden.

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Symbolbild mit Social Media Icons und der türkischen Flagge
Die türkische Regierung plant mit einem neuen Desinformationsgesetz, soziale Medien strenger zu kontrollieren. Kritiker laufen SturmBild: OZAN KOSE/AFP/Getty Images

Wenn das türkische Parlament am 1. Oktober erstmals nach der Sommerpause zusammenkommt, steht der Entwurf des "Gesetzes zur Bekämpfung der Verbreitung von Fehlinformationen in sozialen Medien" ganz oben auf der Tagesordnung. Nach dem Willen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan soll es möglichst schnell vom Parlament verabschiedet werden.

Oppositionelle und andere Kritiker befürchten, dass das neue Gesetz - insbesondere vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023 - zur Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei missbraucht werden könnte. Nach heftigen Reaktionen auf den Gesetzesentwurf zog die Regierungspartei AKP eine Milderung der vorgesehenen Strafen in Erwägung, auf die der ultranationalistische Bündnispartner MHP weiterhin besteht.

Warum sollen soziale Medien strenger kontrolliert werden?

Die Idee, ein strengeres Gesetz gegen Desinformation einzuführen ist nicht neu. Aktuell geben die Enthüllungen des im Exil lebenden Mafiabosses Sedat Peker der Regierung Anlass, das Vorhaben wieder zu verfolgen. Der ehemalige Erdogan-Anhänger Peker veröffentlicht seit 2020 Videos auf YouTube, in denen er mehreren AKP-Politikern und Spitzenbeamten Korruption und schmutzige Geschäfte vorwirft.

Screenshot Youtube | Mafiaboss Sedat Peker an einem Tisch in einem Raum der an eine luxoriöse Hotelsuite erinnert
Aus dem Exil in Abu Dhabi stellt Mafiaboss Sedat Peker Enthüllungsvideos ins InternetBild: REİS SEDAT PEKER/Youtube

Für Regierungskritiker ist der Mafiapate Peker ein glaubwürdiger Whistleblower. Und er hat angekündigt, weitere brisante Enthüllungen speziell über Präsident Erdogan zu veröffentlichen - und zwar zwei Monate vor den nächsten Wahlen.

Das macht die Regierungspartei offenbar sehr nervös. Nach weiteren Korruptionsvorwürfen gegen mehrere AKP-Politiker und Erdogan-Berater vor wenigen Wochen, leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein. Zwei Erdogan-Berater, die auch Ziel der Vorwürfe waren, traten schnell zurück - angeblich aus gesundheitlichen Gründen.

Die Enthüllungen des Mafiabosses nutzte MHP-Chef Devlet Bahceli als Anlass, das Desinformationsgesetz erneut auf die Tagesordnung zu setzen: "Die jüngsten Entwicklungen haben gezeigt, dass die sozialen Medien vorbehaltslos eine Kontrolle benötigen", sagte Bahceli und forderte die zeitnahe Verabschiedung des Desinformationsgesetzes. Dies sei nötig, um Provokationsversuche zu verhindern, die darauf abzielen könnten, die Wahlen im kommenden Jahr zu beeinflussen, so der 74-Jährige.

Desinformations- oder Zensurgesetz?

Im Zuge des Desinformationsgesetzes ergäben sich auch Änderungen für Pressegesetz und Strafgesetzbuch. Sollte der Entwurf in der jetzigen Form verabschiedet werden, würde auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, bekannt als Paragraph 217/A. Er sieht eine Haftstrafe zwischen einem und drei Jahren für die "Verbreitung von Fehlinformationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes, öffentliche Ordnung und generelle Gesundheit" vor.

Männer und Frauen in Anzügen und Kostümen mit Schildern bei einer Kundgebung
Protest gegen das "Desinformationsgesetz" in Ankara: "Schweigen, einschüchtern, einsperren, nein zum Gesetz! Die Presse ist frei und kann nicht zensiert werden!"Bild: Gülsen Solaker/DW

Was innerhalb und außerhalb des Parlaments für Diskussionen sorgt, ist, dass das Gesetz einen sehr großen Spielraum dafür bietet, was überhaupt "Fehlinformationen" sind. Kritiker bemängeln deshalb, dass das Gesetz geeignet sei, um Meinungs- und Pressefreiheit über Gebühr zu beschneiden.

Die zivil Initiative "Regulation und Balance Network (DDA)", die insbesondere Entstehung und Inhalte von Gesetzen unter die Lupe nimmt, kritisiert den Entwurf: "Die neue Regelung führt eine weite und schwer zu definierende Art von Straftat ein und unterwirft diese einer sehr strengen strafrechtlichen Sanktion." Auch Gewerkschaften und Medienverbände gingen im Juni auf die Straßen und protestierten gegen das Vorhaben der Regierung unter dem Motto "Nein zum Zensurgesetz".

Desinformationsgesetz könnte legitime Anliegen vereiteln

Befürchtet wird auch, dass das Gesetz die Verbreitung wichtiger Informationen und legitimer Anliegen nicht nur bestrafe, sondern auch verhindern könnte. Als Beispiel kann die Kampagne "Wo sind die 128 Milliarden US-Dollar geblieben?" dienen. Damit hatte die größte Oppositionspartei CHP im vergangenen Jahr von der türkischen Zentralbank gefordert, Rechenschaft über 128 Milliarden Dollar abzulegen, die aus den Devisenreserven der Zentralbank verschwunden waren.

Die Kampagne war so erfolgreich, dass die Zentralbank letztlich zur Abgabe einer Erklärung gezwungen wurde. Die AKP aber hatte die Kampagne lange Zeit als "Desinformation" bezeichnet. 

Opposition: eine "Katastrophe" für die Türkei

Der MHP-Abgeordnete Feti Yildiz, der dem Parlament den Entwurf im Frühsommer vorgelegt hat, verteidigt das Gesetz im Gespräch mit der DW: Es werde von politischen Gegnern "fälschlicherweise" als Zensurgesetz diffamiert. Tatsächlich stelle es keine Äußerungen unter Strafe, die die Grenzen der Berichterstattung nicht überschreiten.

Özgür Özel bei einer Rede in der türkischen Nationalversammung
Nennt das geplante Gesetz eine "Katastrophe für die Türkei": Özgür Özel, stellvertretender Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHPBild: DHA

Die Oppositionsparteien fordern von der AKP-Regierung, alle Beteiligte aus Politik und Gesellschaft in den Entscheidungsprozess einzubinden. Dies habe die CHP der Regierung bereits im Juni angeboten, sagte der stellvertretende CHP-Vorsitzende Özgür Özel im Gespräch mit der DW. Er bedauere sehr, dass dies nicht stattgefunden habe.

Besonders problematisch findet er an dem aktuellen Entwurf auch, dass die Medien ihre Quellen preisgeben müssten, falls das Gesetz in dieser Form in Kraft treten sollte. Es wäre eine "Katastrophe für die Türkei", so Özel.