Türkisches Gefühl trifft deutsche Disziplin
4. Oktober 2013"Are you recording this?" Mit einem schüchternen, fast beängstigenden Blick schaut Çağatay Güleç in Richtung Aufnahmegerät. Der 24 Jahre junge Musiker sitzt im Probesaal der Beethovenhalle in Bonn, drückt seine Violine mit dem Kinn an seine Schulter und streift sanft den Bogen über die vier Saiten. Sein Spiel klingt beeindruckend melodisch, mit einem Hauch von Melancholie, als würde seine Violine schluchzend, alleine vor sich hin weinen.
Doch Güleç lächelt. "Ich habe gerade nichts Besonderes aufgeführt, einfach nur ein paar Noten gespielt. Ich kann auch etwas Richtiges spielen." Auf einmal schwingt er den Bogen mit voller Wucht, seine Finger bewegen sich nahezu in Lichtgeschwindigkeit und sein wuscheliger Kopf folgt dem Rhythmus, manchmal abrupt, aber manchmal auch zahm und gefühlvoll. Güleçs Talent ist es, seinen Zuhörern mit der Violine eine Gänsehaut zu verpassen. "Die Violine ist speziell, weil sie den besten Klang aller Instrumente hat. Ich spiele sie seitdem ich zehn Jahre alt war. Sie ist simpel, man kann die Violine mit seinem Körper spielen."
Güleç gehört zum Jugendorchester des Konservatoriums der staatlichen Universität Istanbul (Istanbul University State Conservatory Symphony Orchestra). Rund 80 junge Musiker, zwischen 15 und 25 Jahre alt, zählen zu dem Ensemble und sind von der türkischen Großstadt aus zum Beethovenfest in Bonn gereist. Was sie alle verbindet ist das erfolgreiche Bestehen der rigorosen Aufnahmeprüfung einer der traditionsreichsten Musikschulen der Türkei und das große Talent für klassische Musik.
"Musik braucht Disziplin"
Westliche Klassik, wohlgemerkt. Zwar ist die Türkei ein kulturell und musikalisch extrem reiches Land und von einer Vielzahl von Einflüssen geprägt. Dazu gehört die klassische türkische Musiktradition. Dennoch sind die ersten Musikschulen mit westlicher Orientierung erst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden. Damals, nach der Republikgründung durch Mustafa Kemal Atatürk, folgte eine Europäisierung der türkischen Gesellschaft.
Der damalige Aufprall zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen spiegelt sich bei den jungen Musikern des Jugendorchesters wider. Für die meisten ist es die erste Reise außerhalb der Türkei. Für Güleç ist es der erste Besuch in Deutschland: Er ist beeindruckt. "Die Musikschulen sind großartig. Hier gibt es eine Menge Räume und Konzertsäle. In der Türkei üben wir im selben Raum wie alle anderen." Darüber hinaus hat Güleç, trotz kurzer Zeit, eine der deutschen Haupttugenden erkannt: "Die Deutschen brechen keine Regeln, sie haben Disziplin. Wir üben wann wir wollen, aber für Musik braucht man Disziplin."
Getrieben vom Ehrgeiz eines Menschen, der viel mit klassischer Musik erreichen möchte, trat Güleç mit dem Jugendorchester am 3. Oktober beim Beethovenfest auf. Dort nahmen die jungen Musiker am Orchestercampus teil. Zum Campuskonzert gehörten die 3. Sinfonie "Eroica" von Ludwig van Beethoven und die Uraufführung von "Durak", komponiert von Zeynep Gedizlioğlu im Auftrag der Deutschen Welle.
Istanbuler Ausschreitungen in Noten verarbeitet
Die Komponistin Gedizlioğlu bekam großes Lob für "Durak". Laut Dirigent Ramiz Malik-Aslanov, der das Orchester des Konservatoriums seit 1995 leitet, ist Gedizlioğlus Komposition von der technischen Seite her ein ziemlich anspruchsvolles Musikstück. "Ich musste viele Stunden daran sitzen, denn für mich ist es wichtig, die Gefühle des Werkes zu verstehen, denn mein Ziel als Dirigent ist es, die Herzen der Zuhörer zu erreichen."
Das Stück behandelt Gefühle, die schwierig zu vermitteln sind. Gefühle, die einen dazu treiben, alles hinzuschmeißen, um für bessere Aussichten und Hoffnung in seinem Land zu kämpfen: Die Gefühle einer jungen Türkin, die Meilenweit von Zuhause entfernt ist und im Fernsehen zusehen muss, wie sich in ihrer Heimat, auf ihrem Taksim Platz und in ihrem Gezi Park, Szenen der Gewalt abspielen.
Im Juni dieses Jahres ist Zeynep Gedizlioğlu, die in Deutschland wohnt, zu dem Punkt gekommen, an dem sie sich entscheiden musste: "Ich habe gedacht: Okay, ich sage das Stück ab und gehe nach Istanbul. Oder ich bleibe in Berlin, atme tief ein, und versuche diese ganze Sprachlosigkeit und diese Spannung, die in mir entstanden ist, auf das Notenpapier zu übertragen." Gedizlioğlu blieb in Berlin und wurde letzte Woche bei ihrer ersten Begegnung mit dem Jugendorchester für ihre Entscheidung belohnt. "Wir haben insgesamt nur zehn bis 15 Mal geprobt", sagt Dirigent Aslanov. "Doch die Tränen von Frau Gedizlioğlu haben gezeigt, dass wir das gut hinbekommen haben."
"In der Türkei weiß man nicht viel über Beethoven"
Für Can Davran ist Ramiz Malik-Aslanov ein großer Dirigent, eben weil er so intensiv fühlt. "Wenn ich Musik spiele, dann bin ich eigentlich irgendwo anders", erklärt er. Davran ist 20 Jahre alt und spielt seit seinem dritten Lebensjahr Klarinette. Auch er ist zum ersten Mal in Deutschland und für ihn war der Höhepunkt des Beethovenfests das Public Viewing der "Fidelio"-Aufführung am Bonner Marktplatz. "In der Türkei gibt es so etwas nicht. Unsere Mission ist es jetzt, etwas von der klassischen Musik und Beethoven dorthin mitzubringen."
Davrans Augen glänzen wie sein Silberring am linken Ohr wenn er über klassische Musik und das Orchester spricht. "Wir sind richtig gut. Okay, hier in Deutschland fühlt es sich wie ein Desaster an, aber ich denke trotzdem, dass wir gut sind. Unser "Maestro" ist glücklich und wir sind es auch". Eben weil sie gut sind.