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Politik

800 Seiten über Antiziganismus

Gilda-Nancy Horvath
13. Juli 2021

Die von der Bundesregierung eingesetzte Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) belegt in ihrem aktuellen Bericht die fortgesetzte Diskriminierung der Roma- und Sinti-Community in Deutschland.

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Deutschland Berlin | Ermordete Sinti und Roma | Denkmal
Berlin: Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma EuropasBild: picture-alliance/dpa/J. Raible

Die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) wurde 2019 von der deutschen Regierung beauftragt, die Situation der Roma und Sinti in Deutschland zu analysieren.Der auch im Bundestag am 24.07.2021 debattierte Bericht mit dem Titel: "Perspektivwechsel - Nachholende Gerechtigkeit - Partizipation" belegt die fortgesetzte Diskriminierung der Minderheit in Deutschland und zeigt auf, wie Antiziganismus bekämpft werden kann.

Was die UKA damit konkret meint, wird bereits im Vorwort des Berichts deutlich: "Es bedarf eines grundlegenden Perspektivwechsels in der Gesellschaft, der die Relevanz von Antiziganismus anerkennt und die damit zusammenhängenden strukturellen und institutionellen Macht- und Gewaltverhältnisse kritisch reflektiert und zu überwinden trachtet."

Es sei eine Politik der "nachholenden Gerechtigkeit" erforderlich, die das auch nach dem Zweiten Weltkrieg begangene Unrecht gegenüber Überlebenden und deren Nachkommen ausgleiche.

Am 13.07.2021 wurde der Bericht in Berlin von Bundesinnenminister Horst Seehofer und dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma (ZDSR), Romani Rose, in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Seehofer betonte die gesamtgesellschaftliche Verantwortung im Kontext der Bekämpfung von Rassismus und Antiziganismus: "Dieser Kampf ist nicht nur eine Aufgabe der Exekutive, sondern der ganzen Gesellschaft. Auch der Deutsche Bundestag, unser Parlament, ist hier gefordert."

Berlin Romani Rose und Horst Seehofer Antiziganismus Pressekonferenz
Romani Rose (li.), Vorsitzender des ZDSR, und Bundesinnenminister Horst Seehofer stellen den UKA-Bericht in der Bundespressekonferenz vor - Berlin, 13.07.2021Bild: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance

Rose bedauerte, dass Angehörige der Sinti und Roma in Deutschland noch immer nicht als Bürgerinnen und Bürger des Landes wahrgenommen würden: "Zwischen kultureller Identität und nationaler Identität darf kein Unterschied gemacht werden. Wir haben eine 600-jährige deutsche Geschichte und in erster Linie sind wir Deutsche."

Empfehlungen der UKA

Der UKA-Bericht belegt, dass sich Sinti und Roma in Deutschland nicht sicher fühlen. Viele Fälle von Antiziganismus sowie physischer und psychischer Gewalt würden nur selten zur Anzeige gebracht. Dies liegt auch am geschwächten Vertrauen in Polizei und Justiz nach den aufgezeigten Fällen von "Racial Profiling" im letzten Jahr. Rose würde eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Methoden der Behörden begrüßen: "Ein Rechtsstaat muss immer ein offener Rechtsstaat sein. Grundlage unserer Gesetze ist das Grundgesetz. Da heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn man die Würde des Menschen unterschiedlich wahrnimmt und sie unterschiedlich behandelt, das heißt also, es gibt ein Täterprofil, dass sich an der Hautfarbe, an der Haarfarbe, an der Abstammung orientiert, dann ist das mit unserem Rechtsstaat nicht vereinbar."

Der UKA-Bericht empfiehlt die Berufung einer/eines Beauftragten gegen Antiziganismus, die Einsetzung eines unabhängigen Beratungskreises, die Schaffung einer ständigen Bund-Länder-Kommission sowie die umfassende Anerkennung des nationalsozialistischen Genozids an Sinti und Roma. Darüber hinaus müsse es eine Kommission zur Aufarbeitung des an Sinti und Roma begangenen Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland geben.

Die Ergebnisse des Berichts basieren auf drei größeren und mehreren kleinen Studien zur Analyse der Bedarfe, Herausforderungen und Forderungen der Roma- und Sinti-Community sowie ihrer Selbstorganisationen in Deutschland.

Isidora Randjelovic ist Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin. Sie hat die Studie "Rassismuserfahrungen von Sinti*zze und Rom*nja" mitkoordiniert und illustriert an einem Fallbeispiel die Auswirkungen lebenslanger Traumata befragter Personen: "Eine Frau, die im Konzentrationslager geboren wurde, überlebt und pflegt später als junge Frau ihre kranken Eltern, die tief gezeichnet waren von den Erlebnissen in der Gefangenschaft der Nationalsozialisten. Ihre Wohnung wurde enteignet und sie bekamen auch keine Entschädigung. Sie lebten in Baracken, die ihnen nach dem Krieg von der Stadt zugewiesen wurden. Dort wurden sie regelmäßig von Sozialarbeitern und der Polizei kontrolliert. In den 80er Jahren wurden sie und ihre Familie im Urlaub auf einem Campingplatz von einer Bande mit Waffen beschossen."

Als die Polizei kam, wurde die traumatisierte Familie befragt, was sie an diesem Platz überhaupt zu suchen habe, anstatt eine Fahndung nach den Tätern einzuleiten. Doch das Fallbeispiel geht noch weiter:

"In den späten 2000er Jahren wird dieselbe Frau bei einem Spaziergang in einem Park zum Opfer einer rassistischen Gewalttat - ein Mann tritt mehrmals auf ihren Körper ein. Die Frau begibt sich aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen nicht in medizinische Behandlung. Später erleidet sie als Folge davon einen Niereninfarkt und verliert die Niere endgültig."

Hajdi Barz war Koordinatorin der "Studie zum Empowerment von Sinti*zze und Rom*nja" der Hochschule Mittweida. Darin wurden Möglichkeiten zur Stärkung und Verfestigung von Partizipationsstrukturen der Roma- und Sinti-Organisationen in Deutschland beleuchtet. Barz kann klar benennen, was es laut den Selbstorganisationen der Community wirklich braucht:

"Der politische Wille wurde als eigenes Kapitel in der Studie sichtbar gemacht, weil ein relevanter Teil der belegten Benachteiligungen im Umgang mit Strukturen staatlicher Institutionen geschieht. Das bedeutet konkret: Die Selbstorganisationen kämpfen nicht nur gegen Rassismus - sie sind auch selbst davon betroffen. Zudem sind die AkteurInnen der Communities kaum vor Täter-Opfer-Umkehr, Hate-Speech und physischer Gewalt geschützt."

Nothing about us without us

Umso wichtiger sei laut Barz, Roma und Sinti in Arbeiten und Entscheidungen, die sie betreffen, mit einzubinden, um ihre Bedarfe richtig einschätzen zu können:

"Die Studie wurde unter Beteiligung von Personen aus den Communities erstellt und lebt damit den partizipativen Ansatz, der auch von der Mehrheit der Selbstorganisationen gefordert wird. Oftmals wird über Sinti*zze und Rom*nja gesprochen und bestimmt, ohne sie selbst mit einzubeziehen."

Damit gehe laut Barz viel Wissen und Kompetenz verloren, denn die Studie zeige die hohe thematische Diversität und transkulturelle Kompetenz der Selbstorganisationen.

Roma Lives Matter - Kampagne gegen Antiziganismus
Roma Lives Matter - Kampagne gegen Antiziganismus, ERIAC (Europäisches Roma-Institut für Kunst und Kultur, Berlin)Bild: ERIAC

Dieses notwendige Engagement ist jedoch laut Studie ständig durch mangelnde und kurzfristige Finanzierung in seiner Existenz bedroht. Dieser Mangel verhindert den Aufbau stabiler Strukturen und die Produktion nachhaltiger Resultate. Mehr als 90 Prozent aller Befragten - darunter lokale, nationale und internationale Vereine, Initiativen, Dachverbände und Stiftungen - fordern daher mehr Unterstützung für ihre Arbeit.

Auch die Rolle der Medien wird  im UKA-Bericht thematisiert. Diese würden zur Verfestigung von Stereotypen beitragen, wie Isidora Randjelovic berichtet: "Einer der Gründe für fehlendes Wissen und Mythenbildung in der kollektiven Wahrnehmung ist die mediale Verstärkung von Stereotypen, die Verzerrung von Informationen und die Emotionalisierung von Nachrichten im Kontext von Sinti*ze- und Rom*nja-Communities."

Bundesinnenminister Seehofer appellierte an die Verantwortung der Medien. Dabei erwähnte er die positive Initiative der Deutschen Welle, die stark dazu beitrage, die seriöse Repräsentation von Sinti und Roma in den Medien zu stärken.

"Eine Frage von uns Allen"

Der Bundestag hat am Donnerstag, 24. Juni 2021, den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus in einer Debatte ausgewertet. Mehrere Parlamentarier unterstrichen die besondere Verantwortung Deutschlands im Kampf gegen Antiziganismus. Helge Lindh (SPD) verwies dabei auf die Tatsache, dass das Phänomen nicht nur in rechtsradikalen Kreisen ein Thema sei:

"Der Antiziganismus ist nicht eine Frage der Anderen und der Nationalsozialisten, sondern es ist eine Frage von uns Allen. Auch von uns Demokratinnen und Demokraten. Wenn wir das nicht begreifen, werden wir niemals den Sinti und Roma in diesem Land Gerechtigkeit widerfahren lassen."

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßte die Debatte. Dass sich die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag mit dem Bericht der Kommission und deren Handlungsempfehlungen befasst habe, sei "ein wichtiger Schritt für die Minderheit und ebenso für die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft", heißt es in einer öffentlichen Stellungnahme des Zentralrats.

Erst in der neuen Legislaturperiode wird sich zeigen, was aus dem Bericht der UKA tatsächlich übernommen wird. Geplant ist laut Seehofer, die Empfehlungen bis zum Jahr 2030 in Zusammenarbeit mit Bund, Ländern und Selbstorganisationen der Sinti und Roma in Deutschland umzusetzen.