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Konflikte

Aktuell: Kreml will ukrainische Gebiete rasch annektieren

23. September 2022

Nach den Scheinreferenden in vier besetzten Regionen sollen bald Fakten geschaffen werden. Kiew wirft Russland vor, ukrainische Gefangene gefoltert zu haben. Ein Überblick.

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Russland | Vorbereitungen für Scheinreferendum in Donezk Region
Vorbereitungen für das sogenannte Referendum in Donezk (Bild der russischen Staatsagentur TASS)Bild: Yegor Aleyev/TASS/dpa/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Kreml will ukrainische Gebiete nach "Referenden" rasch annektieren
  • Foltervorwürfe gegen Russland
  • UN-Kommission stellt Kriegsverbrechen fest
  • Deutsche Politiker wollen russische Kriegsdienstverweigerer aufnehmen
  • Finnland verzeichnet nach Teilmobilmachung deutlich mehr Einreiseversuche aus Russland

 

Der Kreml erwartet bei den sogenannten Referenden in besetzten ukrainischen Gebieten ein Ja für einen Beitritt zu Russland - und kündigt eine rasche Annexion an. Das Verfahren, um die Regionen aufzunehmen, werde nicht lange dauern, sagte der Sprecher des Präsidenten, Dmitri Peskow. Zugleich betonte er, Versuche der Ukraine, sich die Gebiete zurückzuholen, würden dann als Angriff auf die Russische Föderation gewertet. Kremlchef Wladimir Putin hatte bereits erklärt, die Gebiete mit allen Mitteln zu verteidigen.

Die vom Westen und der Ukraine nicht anerkannten Scheinabstimmungen sind an diesem Freitag in den von russischen Soldaten besetzten Teilen der Gebiete Donzek, Luhansk, Saporischschja und Cherson angelaufen. Die Menschen dort sollen bis Dienstag über die Frage entscheiden, ob sie für oder gegen einen Beitritt zur Russischen Föderation sind. Russland beruft sich auf das "Selbstbestimmungsrecht der Völker".

Weder die Ukraine noch die internationale Gemeinschaft erkennen diese Abstimmung unter dem Druck der Besatzungsmacht Russland mit bewaffneten Truppen an. Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Auch eine freie Arbeit internationaler unabhängiger Beobachter ist nicht möglich.

Großbritannien sieht Russland unter Druck

In vielen Teilen des Landes gehen die Kämpfe unterdessen weiter. Die ukrainische Armee verkündete erneut Gebietsgewinne bei ihrer Gegenoffensive. Eigene Truppen hätten die Ortschaft Jazkiwka in Donezk zurückerobert, erklärte der ranghohe Militärvertreter Oleksij Gromow im Fernsehen. Außerdem sei die Kontrolle über Stellungen südlich der ebenfalls in Donezk gelegenen Stadt Bachmut zurückgewonnen worden. Zuvor hatte die Ukraine größere Gebiete vor allem in der nordöstlichen Region Charkiw von den russischen Invasionstruppen befreit.

Nach Ansicht britischer Geheimdienstexperten setzen ukrainische Soldaten die russischen Einheiten inzwischen in Regionen unter Druck, die Moskau für seine Kriegsziele als entscheidend ansieht. Das geht aus einem Geheimdienst-Update hervor, das täglich vom Verteidigungsministerium in London veröffentlicht wird. 

Es bröckele bereits die Verteidigungslinie, auf die sich Russlands Armee nach den jüngsten Gebietsverlusten im Nordosten des Landes zurückgezogen habe, heißt es. Als Hinweis dafür sehen die Briten, dass die Ukrainer Brückenköpfe am Ufer des Flusses Oskal in der Region Charkiw errichtet haben. Russland wollte den Fluss laut britischen Informationen eigentlich in eine befestigte Verteidigungslinie integrieren. 

Foltervorwürfe Richtung Moskau

Nach dem größten Häftlingsaustausch seit Kriegsbeginn hat die Ukraine beklagt, dass von Russland überstellte Gefangene Misshandlungsspuren aufweisen. "Viele von ihnen wurden brutal gefoltert", sagte der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanow auf einer Pressekonferenz, ohne Einzelheiten zu nennen.

Ukraine Gefangenenaustausch
Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine am 21.09.2022Bild: Ukrainian Security service/AA/picture alliance

Es gebe auch Gefangene, deren körperlicher Zustand "mehr oder weniger normal ist, abgesehen von chronischer Unterernährung durch die schlechten Haftbedingungen", sagte er weiter. Laut dem ukrainischen Innenminister Denys Monastyrsky benötigen alle eingetauschten Ukrainer eine psychologische Behandlung.

Bei dem Austausch wurden 250 Ukrainer und zehn Menschen anderer Nationalitäten in die Ukraine gebracht. Sie waren in verschiedenen Einrichtungen in den von russischen Truppen besetzten Gebieten sowie in Russland gefangen gehalten worden. Unter ihnen waren auch hochrangige Kommandeure der Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol.

Nach Russland wurden im Zuge des Austauschs 55 Militärs zurückgeschickt. Zudem wurde der ukrainische Multimillionär Viktor Medwedtschuk nach Russland gebracht. Er gilt als enger Vertrauter von Kreml-Chef Wladimir Putin.

UN-Kommission stellt Kriegsverbrechen fest 

Eine von den Vereinten Nationen beauftragte unabhängige Kommission kommt nach der Auswertung von Beweisen zu dem Schluss, dass in der Ukraine Kriegsverbrechen verübt wurden. Die Opfer seien zwischen vier und 82 Jahre alt, sagte der Vorsitzende Erik Møse vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf.

Die Untersuchung konzentrierte sich vorerst auf die Anfangsphase der Invasion im Februar und März und auf die Regionen Kiew, Tschernihiw, Charkiw und Sumy. Bei Besuchen an diesen Kriegsschauplätzen fiel der Kommission eine hohe Zahl an Exekutionen auf. Opfer seien oft vor ihrem Tod festgenommen und gefesselt worden. Tote wiesen Schusswunden in den Köpfen und aufgeschlitzte Kehlen auf. Zu den Foltermethoden gehörten Schläge und Elektroschocks. Die Kommission dokumentierte auch zwei Fälle, in denen russische Soldaten von ukrainischen Einheiten misshandelt wurden. Im März 2023 soll es einen Abschlussbericht geben.

Ukraine - Massengrab in Kharkiv
Mitte September wurden in der Nähe der zurückeroberten Stadt Isjum zahlreiche Gräber entdecktBild: Gleb Garanich/REUTERS

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat die internationale Gemeinschaft aufgerufen, Bemühungen zur Strafverfolgung russischer Völkerrechtsverbrechen zu unterstützen. "Es darf keine Straflosigkeit geben. Das ist unser Versprechen gegenüber den Opfern, insbesondere den am stärksten gefährdeten Opfern: Frauen, Mädchen, aber auch älteren Menschen", sagte die Grünen-Politikerin am Rande der UN-Generalversammlung in New York. Vergewaltigung sei eine "Kriegsmethode, ein Kriegsverbrechen mit universeller Gerichtsbarkeit".

Selenskyj fordert Russen zu Widerstand auf

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die russische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Teilmobilmachung im Land aufgerufen. 55.000 russische Soldaten seien seit Beginn des Angriffskriegs am 24. Februar bereits gestorben, sagte Selenskyj in seiner allabendlichen Videoansprache. "Wollt ihr mehr davon? Nein? Dann protestiert dagegen. Kämpft dagegen. Lauft weg. Oder ergebt euch", sagte Selenskyj weiter. 

Ukraine | Wolodymyr Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, fordert die russische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Teilmobilisierung aufBild: President Of Ukraine/APA Images/ZUMA/picture alliance

Nun sei es "an der Zeit, zu entscheiden". Für Männer in Russland gehe es darum "zu sterben oder zu leben, zum Invaliden zu werden oder gesund zu bleiben". Für Frauen gehe es darum, "ihre Männer, Söhne, Enkel für immer zu verlieren - oder sie vor dem Tod zu beschützen, vor dem Krieg, vor einer Person", sagte Selenskyj unter Bezugnahme auf Putin.

Nach der vom Kreml verkündeten Einberufung von angeblich 300.000 Reservisten versuchen viele junge Männer, sich aus Russland abzusetzen. Es gab auch Proteste gegen die Maßnahme mit Hunderten Festnahmen.

Nach jüngsten Angaben des russischen Verteidigungsministeriums werden Beschäftigte in bestimmten Sektoren keine Einberufungsbescheide erhalten. Dazu gehörten unter anderem IT-Spezialisten, Banker sowie Journalisten, die für staatliche Medien arbeiten. Dies sei notwendig, um "sicherzustellen, dass die Arbeit bestimmter Hightech-Industrien sowie das russische Finanzsystem" nicht von der Teilmobilmachung beeinträchtigt werden.

Leichtere Aufnahme für russische Kriegsdienstverweigerer?

In Deutschland machen sich unterdessen Politiker aus Regierung und Opposition für eine erleichterte Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer und Deserteure stark. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, sagte der "Rheinischen Post": "Wer sich als Soldat an dem völkerrechtswidrigen und mörderischen Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine nicht beteiligen möchte und deshalb aus Russland flieht, dem muss in Deutschland Asyl gewährt werden." SPD-Faktionsvize Dirk Wiese sagte der Zeitung, allein die verschärften Strafen, die Menschen bei Entzug der Einberufung drohten, "halte ich bereits nach jetziger Rechtslage für ausreichend als Asylgrund". Ähnlich äußerte sich die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser.

Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Johann Wadephul, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, die Regeln für humanitäre Visa sollten jetzt großzügig ausgelegt werden. "Das muss auch für Soldaten gelten, die sich offen gegen das Putin-Regime stellen."

Alleingänge will die deutsche Bundesregierung aber offenbar ausschließen. Dass viele russische Männer versuchten, sich dem Kriegsdienst in der Ukraine zu entziehen, sei zunächst einmal "ein gutes Zeichen", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Nun gehe es darum, in den nächsten Wochen mit den anderen EU-Staaten eine "tragfähige Lösung" zu finden. In dieser besonderen Situation nur darauf zu verweisen, dass jeder, der es schaffe einzureisen, einen Asylantrag stellen könne, sei nicht ausreichend.

Schlangen an finnischen Grenzübergängen

Ein beliebtes Fluchtziel für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure ist Finnland. Die südöstliche Grenze zu Russland sei weiterhin stark frequentiert, erklärte der Grenzschutz. Bereits am Donnerstag habe sich die Zahl der einreisenden russischen Bürger im Vergleich zur Vorwoche mehr als verdoppelt. "Heute Morgen ist immer noch viel los. Vielleicht noch ein bisschen mehr als gestern", sagte ein Sprecher des Grenzschutzes am frühen Freitagmorgen.

Finnland - Überfahrten aus Russland an der Grenzstation Vaalimaa
Bereits am Donnerstag stauten sich am Checkpoint Vaalimaa die russischen Autos.Bild: Oliver Morin/AFP

Die längste Schlange bildete sich am Grenzübergang Vaalimaa. Dort stauten sich die Autos auf einer Länge von 500 Metern. Allerdings will das EU-Mitgliedsland den meisten Russen die Einreise verwehren. Finnische Grenzübergänge gehören zu den wenigen Einreisemöglichkeiten für Russen nach Europa. Die ebenfalls an Russland grenzenden EU-Länder Estland, Lettland, Litauen und Polen weisen schon seit einigen Tagen russische Staatsbürger an den Grenzen ab.

Alternatives Fluchtziel: Kasachstan 

In Kasachstan dagegen sind die Grenzübergänge zu Russland nach wie vor offen. Auch hier steigt Behördenangaben zufolge die Zahl der Menschen, die ihr Land verlassen wollen. Vier der insgesamt 30 Übergänge seien besonders belastet, heißt es in einer Mitteilung des kasachischen Grenzschutzes, der aber keine Zahlen nennt.

Ein Zeuge, der seinen Namen nicht nennen wollte, sagte der Nachrichtenagentur Reuters, er stehe bereits seit Donnerstagmorgen an der Grenze im Stau. Viele der Menschen dort seien Männer im wehrfähigen Alter. Die Grenzposten auf der russischen Seiten führten gründliche und langwierige Kontrollen durch.

jj/nob/mak/ack/djo/cwo (dpa, afp, kna)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.