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Politik

Aktuell | Kreml meldet Truppenrückzug aus Charkiw

10. September 2022

Russische Truppen geraten in der Region Charkiw unter Druck. Jetzt kündigte Moskau deren Abzug an. Die deutsche Außenministerin Baerbock besucht überraschend Kiew und bekräftigt die Solidarität. Ein Überblick.

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Ukraine-Krieg Charkiw | Mehrfachraketensystem
Ukrainische Soldaten auf einem Mehrfachraketensystem in der Ostukraine (Archivbild)Bild: kyodo/dpa/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Moskau meldet Truppenabzug aus der Region Charkiw
  • Kiews Truppen melden Rückeroberung von Kupjansk
  • Baerbock: "Ukrainer können sich auf uns verlassen"
  • EU-Staaten sichern Ukraine weitere Milliarden zu
  • Deutsche Kommunen warnen vor flächendeckenden Stromausfällen

 

Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven hat Russland den Rückzug von Truppen im Osten der Ukraine bekanntgegeben. Soldaten sollten aus dem Gebiet Charkiw etwa aus der strategisch wichtigen Stadt Isjum abgezogen werden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, in Moskau. Auch aus der Stadt Balaklija, die die Ukrainer schon in der vergangenen Woche als befreit gemeldet hatten, sollen die russischen Truppen demnach abrücken.

10.000 russischen Soldaten drohte die Einkesselung

Offiziell begründet wurde der Abzug damit, dass durch die Umgruppierung die Einheiten im angrenzenden Gebiet Donezk verstärkt werden sollen. Viele Militärexperten gehen jedoch davon aus, dass die Russen mehr als ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn angesichts des massiven ukrainischen Vorstoßes im Charkiwer Gebiet so stark unter Druck geraten sind, dass sie sich zur Flucht entschieden haben.

Ukraine-Krieg Kämpfe bei Charkiw
Ukrainische Truppen in der Region CharkiwBild: Metin Aktas/AA/picture alliance

Zuvor hatte die ukrainische Seite etwa über die Rückeroberung von Kupjansk berichtet. Die Kleinstadt ist wegen ihres direkten Bahnanschlusses an Russland als Verkehrsknotenpunkt wichtig für die Versorgung des gesamten russischen Truppenverbands um das südwestlich gelegene Isjum. Durch den Vorstoß der Ukrainer hätte dort nun mehr als 10.000 russischen Soldaten die Einkesselung gedroht.

Später berichtete der Militärgouverneur des ebenfalls ostukrainischen Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, die eigenen Truppen seien auch dort auf dem Vormarsch und bereits an den Stadtrand von Lyssytschansk vorgestoßen. Lyssytschansk war im Juli als letzte größere Stadt des Gebietes Luhansk von der russischen Armee erobert worden. Auch mit Hilfe westlicher Waffen hat die ukrainische Armee im August mit einer groß angelegten Gegenoffensive begonnen. Im Charkiwer Gebiet wurden dadurch zuletzt Dutzende Dörfer und mehrere Städte von den russischen Besatzern befreit.

Annalena Baerbock besucht in einem Vorort von Kiew das Minenräumprojekt von  Hazardous Area Life-support Organization
Baerbock (r.) beim Besuch des Minenräumprojekts bei Kiew: Sechs Millionen Euro für KampfmittelräumungBild: Thomas Trutschel/IMAGO

Baerbock überraschend in Kiew eingetroffen

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist überraschend in Kiew eingetroffen. Sie wolle mit ihrem zweiten Besuch seit Kriegsbeginn zeigen, "dass wir der Ukraine weiter beistehen, solange es nötig ist - mit der Lieferung von Waffen, mit humanitärer und finanzieller Unterstützung", sagte sie bei ihrer Ankunft. Aus ihrer Sicht sei klar, dass der russische Präsident Wladimir Putin darauf setze, "dass wir der Anteilnahme am Leid der Ukraine müde werden". Der Kremlchef glaube, "dass er unsere Gesellschaften mit Lügen spalten und mit Energielieferungen erpressen kann" Diese Rechnung Putins dürfe und werde nicht aufgehen. Sie sei gekommen, um den Menschen in der Ukraine zu zeigen, "dass sie sich weiter auf uns verlassen können".

Baerbock besucht Minenräumer

Nach einer Begegnung mit Minenräumern in einem Vorort der Hauptstadt sagte Baerbock: "Was ich hier sehe, ist mehr als erschreckend." Es sei offensichtlich, dass die russische Armee "ganz bewusst" nicht nur Anti-Panzer-Minen verlegt, sondern auch Anti-Personen-Minen eingesetzt habe, "um Zivilisten zu töten". Wichtig sei daher, dass die Ukraine nicht allein militärische Hilfe erhalte, sondern auch Unterstützung im Zivilschutz. Insgesamt hat die Bundesregierung sechs Millionen Euro für Kampfmittelräumung durch die Nichtregierungsorganisation HALO bereitgestellt. Die Aufstockung um eine weitere Million ist nach Angaben des Auswärtigen Amts bis Ende des Jahres geplant.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock steigt mit einem Koffer aus dem Zug
Baerbock reiste mit dem Nachtzug von Polen aus nach KiewBild: Michael Fischer/dpa/picture alliance

Die Grünen-Politikerin reiste in der Nacht zu Samstag mit einem Sonderzug und einer kleinen Delegation von Polen aus nach Kiew. Der Luftraum über der Ukraine ist seit Kriegsbeginn gesperrt. In der Hauptstadt will Baerbock unter anderem Gespräche mit Außenminister Dmytro Kuleba führen. Die Ministerin war Mitte Mai als erstes deutsches Regierungsmitglied seit Kriegsbeginn nach Kiew gereist. Sie hatte damals die deutsche Botschaft wiedereröffnet und Präsident Wolodymyr Selenskyj sowie Kuleba getroffen.

EU sagt Ukraine weitere Milliarden zu

Die Ukraine kann bald weitere fünf Milliarden Euro an Krediten von der EU erhalten. Die Finanz- und Wirtschaftsminister der EU-Länder befürworteten die Milliardenhilfe, wie die tschechische Ratspräsidentschaft mitteilte. Das neue Darlehen soll für den laufenden Betrieb des Staates verwendet werden. Außerdem sei sicherzustellen, dass die kritische Infrastruktur des Landes wie Schulen und Krankenhäuser weiterlaufen könnten, sagte der tschechische Finanzminister Zbynek Stanjura, der ein Treffen mit seinen EU-Kollegen in Prag leitete. Das Geld ist Teil eines im Mai angekündigten Hilfspakets über insgesamt neun Milliarden Euro. Vor der Auszahlung der fünf Milliarden Euro muss noch das Europaparlament zustimmen. Eine Milliarde Euro wurde bereits Anfang August ausgezahlt.

Grossi nennt Lage im AKW Saporischschja inaktzeptabel

Die Lage rund um das Atomkraftwerk Saporischschja löst indes weiter Besorgnis aus. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, warnte vor einer neuen "dramatischen" Entwicklung. Kämpfe in der Umgebung, die zu einem Stromausfall in der nahegelegenen Stadt Enerhodar geführt hätten, beeinträchtigten den "sicheren Betrieb" der Anlage. Enerhodar liege im Dunkeln. Das Kraftwerk habe keine externe Stromversorgung mehr. "Das ist inakzeptabel, das kann nicht so bleiben", sagte Grossi. Er forderte erneut, den Beschuss der gesamten Umgebung "sofort" zu stoppen. Die IAEA hat wiederholt vor einer Nuklearkatastrophe in dem Kraftwerk gewarnt, das von russischen Truppen besetzt ist und von ukrainischen Fachleuten betrieben wird.

Ukraine-Krieg - Saporischschja
Unter russischer Kontrolle: das AKW Saporischschja (Archiv)Bild: AP/dpa/picture alliance

Der Chef des staatlichen ukrainischen AKW-Betreibers Energoatom, Petro Kotin, erklärte zudem, russische Soldaten hätten Beschäftigte des Kraftwerks gefoltert und mindestens zwei von ihnen "zu Tode geprügelt". Weitere zehn Menschen seien von russischen Soldaten verschleppt worden, über ihren Verbleib sei nichts bekannt.

Kommunen warnen vor flächendeckenden Stromausfällen

Die deutschen Kommunen warnen angesichts der drohenden Energieknappheit im Winter vor flächendeckenden Stromausfällen. Eine "Überlastung des Stromnetzes etwa wenn die 650.000 in diesem Jahr verkauften Heizlüfter ans Netz gehen, sollte die Gasversorgung ausfallen", sei ein realistisches Szenario, sagte Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, der Zeitung "Welt am Sonntag" laut einem Vorabbericht. Er forderte darin außerdem, den zivilen Katastrophenschutz intensiver auszubauen.

Nach Angaben von Deutschlands Kanzler Olaf Scholz stellt sich die Bundesregierung darauf ein, dass durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 weiterhin kein Gas aus Russland fließen wird. Aufgrund von Wartungsarbeiten nach einem angeblichen technischen Defekt hat die russische Betreiberfirma Gazprom die Lieferung des Energieträgers durch die Röhre am Grund der Ostsee vor einer Woche eingestellt. "Wir haben uns aber vorbereitet", sagt Scholz in seiner wöchentlichen Videobotschaft. Er verweist darin auf den Bau von Flüssiggas-Terminals an den norddeutschen Küsten, den Füllstand der Gasspeicher, die Nutzung von Kohlekraftwerken und notfalls auch weiterhin von Atomkraftwerken.

Die Menschen in Deutschland würden spüren, dass sie in einer ernsten Zeit leben. Scholz sprach den Bundesbürgern in der Energiekrise Mut zu: "Wir werden uns als Land unterhaken, weil wir ein solidarisches Land sind. Wir kommen da durch." Mit der ähnlichen Aussage, "Wir schaffen das!", hatte Amtsvorgängerin Angela Merkel 2015, als sehr viele Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland kamen, für Aufsehen und Kritik gesorgt.

Die Bundesregierung hat das Ziel ausgegeben, dass die deutschen Gasspeicher bis zum 1. November zu Beginn der Heizperiode zu 95 Prozent gefüllt sein sollen. Beim letzten bekannten Stand vom Donnerstag waren es 87,2 Prozent und damit innerhalb eines Tages 0,3 Prozentpunkte mehr, wie aus Daten der europäischen Speicherbetreiber hervorgeht.

Erdgastransit: Gaskonzern Naftogaz klagt gegen Gazprom

Der staatliche ukrainische Eneregiekonzern Naftogaz hat den russischen Gaskonzern Gazprom wegen weggefallener Transitgebühren verklagt. "Wir fordern von Gazprom, in vollem Umfang zu bezahlen", schrieb Naftogaz-Chef Jurij Witrenko auf Facebook. Das russische Unternehmen habe seit Mai seinen Transit reduziert und daher weniger überwiesen. Der 2019 unterzeichnete Vertrag sehe jedoch in einer Klausel eine Mindesttransitmenge vor. Diese müsse unabhängig vom realen physischen Transport bezahlt werden. Der Gerichtsstandort ist Zürich. 2019 hatte Naftogaz in einem ähnlichen Fall bereits umgerechnet über drei Milliarden Euro von Gazprom vor einem schwedischen Schiedsgericht erstritten.

qu/wa/jj/AR/Bru/nob/hf (dpa, rtr, afp)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.