Ukraine-Beitritt: Druck auf Deutschland vor dem NATO-Gipfel
10. Juli 2023Deutschlands politisches Gewicht in der NATO hat sich noch nie so schnell gewandelt wie in den vergangenen 16 Monaten. Die sogenannte "Zeitenwende", also dieser Wendepunkt in der deutschen Politik, von dem Bundeskanzler Scholz kurz nach Beginn von Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 im Bundestag sprach, wird nun spürbar.
Viele in der NATO schauen gerade jetzt auf die deutsche Politik, denn beim NATO-Gipfel in Vilniuswerden Antworten auf das Drängen der Ukraine in das Militärbündnis erwartet.
Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine
Die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) legt zu dem bevorstehenden NATO-Gipfel in Litauens Hauptstadt Vilnius eine Analyse mit dem Titel "Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine" vor und fordert konkrete Schritte an deren Ende das Land Mitglied der Allianz werden kann.
So soll Kiew mit einem "Pakt für Sicherheit, Wiederaufbau und Frieden" unterstützt werden. Dabei soll es um "wechselseitig verstärkende Maßnahmen" gehen, die unter verschiedenen Akteuren abgestimmt werden. Also zwischen EU, NATO, den großen Industrienationen G7 und den mehr als 50 militärischen Unterstützer-Nationen unter Führung der USA, die auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im westdeutschen Ramstein die Waffenlieferungen an die Ukraine koordinieren.
"Deutschland kommt dabei die Rolle als zentrales Land zu, was sowohl Finanzmittel als auch Fähigkeiten anbelangt und vor allem politisches Gewicht", sagt die Mitautorin der Analyse, SWP-Forscherin Margarete Klein im DW-Interview.
"Es geht uns darum, dass die Sicherheit der Ukraine langfristig gewährleistet werden muss", sagt Klein, die bei der SWP-Stiftung die Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien leitet. "Und dazu sehen wir nur drei Möglichkeiten: Entweder Russland wird entwaffnet, was unrealistisch ist, die Ukraine besorgt sich wieder Atomwaffen, was keiner wollen kann - oder eben die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO".
Kiew fordert Einladung für Gipfel in Vilnius
Ein klares Signal dafür fordert Andrij Jermak, Büroleiter und Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, kurz vor dem NATO-Gipfel. "Die Ukraine erwartet, dass sie auf dem Gipfeltreffen in Vilnius eine Einladung für einen vereinfachten Beitritt zum Bündnis erhält", sagt Jermak in einem Pressegespräch Ende Juni, zu dem er explizit Journalistinnen und Journalisten von überregionalen Medien in Deutschland eingeladen hatte.
Die Erwartungen der Ukrainerinnen und Ukrainer an die Deutschen sind hoch. Parallel reist Selenskyj durch Europa und wirbt für einen großen Schritt in Richtung NATO, zuletzt in Tschechien und Bulgarien. Unterstützt wird der ukrainische Präsident von den Regierungen der baltischen Staaten und Polen.
In ihrer SWP-Analyse schreibt Osteuropa-Expertin Klein, dem russischen Präsidenten und dem Kreml müsse klar gemacht werden, "dass die westliche Unterstützung dauerhaft ist". Das russische Spiel auf Zeit, also Moskaus Hoffnung, dass die Unterstützung für die Ukraine nachlässt, werde nicht funktionieren. "Notwendig wären die Verstetigung, Intensivierung und langfristige Finanzierung von Waffenlieferungen", so Klein.
Also Munition, Wartung, die gesamte Logistik der ukrainischen Verteidigung und der Aufbau der ukrainischen Rüstungsindustrie. Die Ukraine müsse vollständig in die westliche Militärstruktur integriert werden.
Deutschlands Rolle
Damit würde sich Deutschland in den nächsten Jahren zur "zentralen Verteidigungs- und Rüstungsnation in Europa wandeln", so Politikexpertin Klein.
Doch diese Aussage dürfte für Verwirrung für die Regierungspolitik in Deutschland sorgen. Die Bundesregierung hat kurz vor dem NATO-Gipfel gerade einmal so einen neuen Bundeshaushalt verabschiedet, bei dem fast alle Regierungsmitglieder sparen müssen - außer dem Verteidigungsminister. Dennoch muss Boris Pistorius schon ein wenig Zahlenakrobatik an den Tag legen, um das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der NATO 2024 zu erreichen, also, dass zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die deutsche Bundeswehr fließen. In der Mitteilung seines Ministeriums zum "Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt des Jahres 2024" heißt es, dass im kommenden Jahr "zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für NATO-Verteidigungsausgaben aufgewendet werden".