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PolitikEuropa

Ukraine: Der Krieg geht vor dem Winter in eine neue Phase

26. Oktober 2023

Die Ukraine steht auch ohne Durchbruch an der Südfront besser da als vor der Gegenoffensive. Munition für Gepards aus Deutschland ist im Winter entscheidend.

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Ein Soldat am Flussufer, von dem wir nur den Rücken sehen, blickt auf einen anderen Soldaten im Boot
Nahender Winter im Kriegsgebiet der Ukraine: Bei Cherson im Südwesten der Frontlinie blickt ein ukrainischer Soldat über den Fluss DnjeprBild: Alex Babenko/AP/dpa/picture alliance

Um die Stadt Awdijiwka im Osten der Ukraine wird so heftig gekämpft wie zuletzt wahrscheinlich nur um die weiter nördlich gelegene Stadt Bachmut. Unabhängig überprüfen lassen sich die unmittelbaren Kriegsereignisse nicht. Die Ukraine berichtet an manchen Tagen von 800 bis 1000 getöteten russischen Angreifern, verschweigt aber eigene Verluste

Wie heftig die Angriffe Russlands sind, während die Welt gerade kaum noch auf diesen Krieg schaut, lässt allerdings die schiere Masse des von den ukrainischen Verteidigern zerstörten Kriegsgeräts erahnen. Unabhängige Beobachter werten dafür Videos aus. Der Schweizer Verteidigungsexperte Marcus Keupp schreibt bei X, dem früheren Twitter: "Es sieht so aus, als würde Russland alles geben und versuchen vorzurücken" - bevor die Schlammsaison in den östlichen Frontabschnitten einsetze.

Mit dem Herbst-Regen verwandelt sich der Boden an vielen Stellen in kaum passierbaren Morast. Was bis dahin erreicht ist, kann am ehesten gehalten werden.

Die Ukraine nutze diese Gelegenheit, um "die Ressourcen der Russen herunterzuwirtschaften", sagt im DW-Interview der Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). "Die russischen Kommandeure führen die Offensive bei Awdijiwka im Sowjetstil ohne Rücksicht auf eigenes Material und eigene Truppen. Ganze Kolonnen russischer Schützenpanzer, Truppentransporter und Kampfpanzer gingen dadurch bereits in ukrainischem Artilleriefeuer und in Minenfeldern unter", ergänzt der Ukraine- und Russland-Kenner Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz. Lange zeigt sich im DW-Gespräch überzeugt: In der Ukraine beginne gerade "eine neue Phase des Krieges".

Moskaus Spiel auf Zeit

Diese neue Phase sehe womöglich für die Ukraine positiver aus, als viele im Westen glauben. "Durch das Ausschalten von Radaren, Flugabwehr und russischen Schiffen auf der Westseite der Krim erreichte die Ukraine aus eigener Kraft, dass Getreideschiffe aus Odessa wieder fahren können, und erweiterte ihre operativen Möglichkeiten", sagt Lange.

Dem vom Westen ausgegrenzten Moskau bleibe politisch kaum mehr, als auf Zeit zu spielen, davon zeigt sich Sabine Fischer überzeugt. Die Osteuropa-Forscherin von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die auch die deutsche Regierung berät, schreibt in einem aktuellen Aufsatz über den russischen Präsidenten Putin und den Kreml: "Die politische Führung glaubt weiterhin, die Ukraine militärisch erschöpfen und die internationale Unterstützung für Kyjiw zersetzen zu können."

Erfolg durch westliche Waffensysteme

Tatsächlich hätten die Lieferungen von Rüstungsgütern für die ukrainische Armee in diesem Jahr Erfolge gebracht, obwohl der von vielen westlichen Unterstützer-Nationen erhoffte Durchbruch durch die schwer verminten russischen Linien im Süden der Front ausgeblieben seien, sagt DGAP-Analyst Christian Mölling: "Ich bin nie davon ausgegangen, dass die Ukraine ihr Maximalziel unbedingt erreichen muss. Das ist eben ein Maximalziel." Er sei auch nie davon ausgegangen, dass der Krieg in diesem Jahr zu Ende gehe.

Ein Mann im Anzug steht vor einer Hauswand und schaut in die Kamera
Christian Mölling, Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung bei der Denkfabrik DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik)Bild: DGAP

Die Ukraine sei erfolgreich darin, ihre Ressourcen an Kriegsgerät und Munition intelligent zu nutzen. Sie müsste, "ihre Reserven anders managen", formuliert Nico Lange. Bei einer Podiumsdiskussion über Künstliche Intelligenz (KI) der Deutschen Welle in Berlin hatte zuletzt der Leiter des "Cyber Innovation Hub" der deutschen Bundeswehr, Sven Weizenegger, erkennen lassen, was das bedeutet. KI helfe in der Ukraine, bessere Führungsentscheidungen zu treffen, zum Beispiel, um den Einsatz von "Munition um 80 bis 90 Prozent zu verringern", sagte Weizenegger.

Insgesamt zeichneten sich die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten durch mehr "Agilität" an vorderster Front aus als die russischen. Die Ukraine hat demnach in den 18 Monaten seit dem Beginn von Russlands Großinvasion gelernt, aus der Unterlegenheit bei der Masse von Kriegsgerät einen Vorteil zu ziehen.

"Operative Pause" der Ukraine an der Südfront

Die ukrainischen Militärs reagieren offenbar flexibel. Während Moskau in Awdijiwka Soldaten in den sicheren Tod schicke, pausiere die ukrainische Armee ihre Gegenoffensive an der Südfront bei Robotyne, sagt Ukraine-Kenner Nico Lange.

"Die Ukraine nimmt an diesem Frontabschnitt eine operative Pause und gruppiert insgesamt derzeit Truppen und Ressourcen um, auch aus Vorsicht mit Blick auf die derzeitige Haushaltsblockade für weitere Ukrainehilfen in den USA."

Vorbereitung für die Winter-Verteidigung

Der Winter naht. Kiew geht offenbar davon aus, dass Russland - wie vor einem Jahr - verstärkt die Energieinfrastruktur angreift, damit die Menschen in der Ukraine unter der Kälte leiden. Doch Yurii Ihnat, Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, glaubt, dass diese Rechnung dieses Mal zugunsten der Ukraine ausgehen werde. Zum einen hat Deutschland gerade das dritte IRIS-T Flugabwehrsystem an die Ukraine geliefert. Luftwaffen-Sprecher Ihnat lobt das System als "ganz hervorragend und leistungsstark". Das Hochleistungs-Radar von IRIS-T könne mit anderen Flugabwehrsystemen verbunden werden und sei besonders effektiv. Außerdem steigere "vor allem Deutschland die Produktion von Munition sowohl für Flugabwehrkanonen als auch für Luftabwehrsysteme", sagt Ihnat im DW-Interview. Besonders der deutsche Flugabwehrpanzer Gepard wehrt sehr erfolgreich russische Drohnen-Angriffe ab. Lange war die Munition dafür knapp.

Supermacht USA: Wie viele Krisen kann sie bewältigen?

Tatsächlich hat der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall in einer Pressemitteilung bestätigt, dass seit August Gepard-Munition an einem neu eingerichteten Produktionsband exklusiv für die Ukraine produziert wird. Der sonst sehr verschwiegene Konzern hat einem deutschen Fernsehteam exklusiven Zugang zu der Produktionshalle gestattet. In einer TV-Dokumentation kommt auch der ukrainische Botschafter in Berlin zu Wort.

Gepard-Panzer mit zwei Soldaten, die herausschauen, in freier Natur zwischen Bäumen und Sträuchern
Die Standorte des deutschen Flugabwehrpanzers Gepard in der Ukraine sind streng geheimBild: Sergei Supinsky/AFP/Getty Images

"Wir reden darüber, wieviel Munition gebraucht wird. Was wird verschossen an einem Tag? Damit man auch eine Vorstellung hat, was für ein Bedarf bei uns entsteht", berichtet Botschafter Oleksii Makeiev so freimütig wie selten über seine Gespräche mit dem deutschen Rüstungskonzern. "Wir sprechen aber auch über die Technologien, die gebraucht werden. Zum Beispiel, wenn man feststellt, wie breit die von Russland gebauten Minenfelder sind. Was wird dazu gebraucht, um zu entminen. Und was auch wichtig ist: Wie kommt das Gerät auf das Schlachtfeld."

Formel für Verhandlungen: Ukraine stärken, Russland schwächen

Auch dieser zweite Kriegswinter wird hart für die Menschen in der Ukraine, darin sind sich die Beobachterinnen und Beobachter einig. Aber es gebe auch Hoffnung für das Land im Verteidigungskampf gegen das militärisch hochgerüstete Russland. So machten ukrainische Piloten Fortschritte bei der Ausbildung an westlichen F-16 Kampfjets.

Ein Mann in olivgrüner Uniform steht gestikulierend vor einem Bild mit Kampfjets am Himmel
Yurii Ihnat, Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, lobt Waffen aus Deutschland: 100.000 Schuss Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard werden seit August für die Ukraine produziertBild: DW

Nach der Ausbildung im Flugsimulator würden die Piloten mit einem Ausbilder in einem echten Kampfflugzeug ausgebildet. Erwartet wird, dass die ukrainische Luftwaffe im Frühjahr über eine erste Staffel F-16 verfügt. "Dies wird eine ernsthafte Veränderung bedeuten", sagt Ihnat. Russland werde gezwungen, seine Flugzeuge und Hubschrauber weiter von der Front weg zu verlegen. "Es ist nicht einmal notwendig, in ein heißes Gefecht zu gehen", betont der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe.

"Die Grundkonstanten des russischen Krieges gegen die Ukraine", schreibt die deutsche Osteuropa-Fachfrau Sabine Fischer von der regierungsnahen Denkfabrik SWP, haben sich nicht geändert: "Für aussichtsreiche Verhandlungen muss die Ukraine militärisch wesentlich gestärkt und Russland wesentlich geschwächt werden."