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EU hilft bei Ermittlungen gegen Kriegsverbrechen

Teri Schultz
5. Juni 2022

Russlands Krieg in der Ukraine sorgt für eine beispiellose juristische Kooperation in Europa. Ihr Ziel: Putin und andere Entscheidungsträger für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

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Ein Mensch mit einer Weste mit der englischen Aufschrift "Ermittler für Kriegsverbrechen blickt auch mehrere schwarze Leichensäcke, die nebeneinander aufgereiht liegen
Leichen aus einem Massengrab in Butscha - ein Ermittler sammelt Beweise für KriegsverbrechenBild: Carol Guzy/Zuma Press/dpa/picture alliance

Mehr als 100 Tage Krieg. Mehr als 15.000 mutmaßliche Kriegsverbrechen, und es wird vermutet, dass täglich hunderte weitere verübt werden.

Und Iryna Wenediktowa zählt mit. "Natürlich wissen wir alle, wer für diesen Krieg verantwortlich ist, für die Toten, für alles, was in der Ukraine passiert", sagt Wenediktowa, die erste Frau im Amt des Generalstaatsanwalts der Ukraine, im Gespräch mit der DW.

"Der Präsident der Russischen Föderation und sein Team, die faktisch den Krieg begonnen haben, um Zivilisten zu töten, Zivilisten zu vergewaltigen, Zivilisten zu foltern."

Und tagtäglich schafft Wenediktowa mehr Beweismaterial heran, um mutmaßliche Täter vor Gericht zu bringen. "Es ist das Hauptziel der gesamten zivilisierten Welt und aller Menschen, die von Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Völkerrecht sprechen, dass Menschen, die für den Tod anderer verantwortlich sind, die einfach das Nachbarland besetzen und dort die Bevölkerung umbringen, bestraft gehören", sagt sie. 

Den Haag, 31. Mai: Iryna Wenediktowa und ihre Kollegen während einer Pressekonferenz von Eurojust und IStGH
Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa (3. von links) beim Internationalen Strafgerichtshof in Den HaagBild: Ramon van Flymen/ANP/picture alliance

Das ist auch das Ziel eines neu gegründeten Gemeinsamen Ermittlungsteams (JIT = Joint Investigation Team) mit Hauptquartier im niederländischen Den Haag, koordiniert und finanziert von Eurojust, der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Außerdem wirkt zum ersten Mal der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) mit, sowie eine wachsende Zahl einzelner Regierungen, die auch selbst mutmaßliche Straftaten nach dem Weltrechtsprinzip verfolgen wollen.

Eurojust-Präsident Ladislav Hamran zufolge läuft derzeit die umfassendste Ermittlung, die die Agentur jemals aufgenommen hat. Hamran sagte der Presse kürzlich: "Noch nie in der Geschichte bewaffneter Konflikte hat die Rechtsgemeinschaft mit solcher Entschlossenheit reagiert."

"Partnerschaften aufbauen"

Laut IStGH-Chefankläger Karim Khan könnten die derzeitigen Ermittlungen als Vorbild für weitere Fälle dienen: "Ich glaube, dass wir für die Aufklärung von Verbrechen solcher Größenordnung, die wir am IStGH oft mitbekommen, Partnerschaften aufbauen müssen", so Khan.

"Es gibt keinen Gegensatz zwischen Kooperation und Unabhängigkeit. Kooperation bedeutet nicht Wettbewerb. Zusammenarbeit bedeutet nicht, dass Unabhängigkeit beschnitten wird. Wir müssen als Gerichtsbeamte im gemeinsamen Interesse der Menschheit einander die Hände reichen."

Eine der wichtigsten JIT-Maßnahmen, die helfen soll, juristische Abläufe zu optimieren, ist die zentralisierte Aufbewahrung von Beweismaterial bei Eurojust - Beweismaterial, das von Experten in der Ukraine selbst oder auch in anderen juristischen Zuständigkeitsbereichen gesammelt wurde.

Dabei liefert Eurojust dem Gemeinsamen Ermittlungsteam die technischen Hilfsmittel, die nötig sind, um die Daten zu Kriegsverbrechen zusammenzutragen. Eurojust kümmert sich auch um sprachliche Deutungen und Übersetzungen, die bei der Arbeit der Untersuchungsteams anfallen.

"Wir werden sicherstellen, dass alle beteiligten Parteien auf alles, was das Gemeinsame Ermittlungsteam zusammenträgt, Zugriff haben", sagt Hamran.

Vorgehen gegen Aggression

Doch auch bei verbesserter Zusammenarbeit kommen Fälle von Kriegsverbrechen oft erst nach Jahren vor Gericht. Der Grund ist die extrem hohe Last der Beweisführung.

Laut Menschenrechtsanwältin Lotte Leicht könnten die Ermittlungen schneller sein, wenn zunächst Angriffe und Aggressionen verfolgt würden. Diese Strategie beträfe die Verantwortlichen, die an der Macht sind, und nicht diejenigen, die "nur" die Befehle ausführen.

Menschenrechtsanwältin Lotte Leicht
Menschenrechtsanwältin Lotte LeichtBild: Mark Schellingerhout/DW

"Es reicht die schlichte Tatsache, dass man illegal einen Krieg gegen ein anderes Land begonnen hat", erklärt sie. "Es ist viel einfacher, ein solches Verbrechen nachzuweisen, und die Verantwortlichkeit dafür festzustellen, denn es wurde [von Präsident Wladimir Putin] öffentlich im Fernsehen angekündigt. Wer es absegnete, ist kein Geheimnis. Es ist auch kein Geheimnis, wer die obersten Generäle sind, die das Verbrechen nun ausführen."

"Jede Bombe, jeder Beschuss, jeder russische Panzer" in der Ukraine zähle als Verbrechen der Aggression, fügt sie hinzu. Die Ukraine könne diese Fälle ebenfalls verhandeln, so Leicht, doch das Gesetz verbiete die Anklage von Funktionsträgern, die aktuell ein Amt bekleiden.

Das bedeutet, dass zur Verfolgung dieser Fälle ein weiteres internationales Tribunal eingerichtet werden müsste, vergleichbar mit den Nürnberger Prozessen gegen Nazi-Verbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg.

Druck auf den Kreml

Leicht zufolge werde dies höchstwahrscheinlich unter der Leitung der führenden Menschenrechtsorganisation Europas, dem Europarat, geschehen. Irland, das derzeit und noch bis November den Vorsitz innehat, will die Einrichtung eines solchen Gerichts bis dahin erreichen.

Die internationale Kooperation der Justizbehörden werde den inneren Kreml-Zirkel ein wenig ins Schwitzen bringen, prognostiziert Leicht. "Alle, die geglaubt haben, für immer ungestraft davonzukommen, trotz sehr schwerer Verbrechen, einschließlich des Verbrechens der Aggression, sollten sich die Geschichte ansehen. Jene, die in Europa genau so gedacht haben - Milosevic, Karadzic, Mladic - lagen alle falsch. Sie landeten letztlich vor Gericht."

Am Dienstag (31.5.) saß Iryna Wenediktowa in Den Haag zwischen Litauens Chefanklägerin und Karim Khan vom IStGH.  "Ich hoffe darauf, dass wir gemeinsam mit meinen internationalen Kollegen und mit der internationalen Gemeinschaft der Juristen der Gerechtigkeit näherkommen", sagt sie. "Wir wollen Gerechtigkeit."

Der Text wurde von Werner Schmitz aus dem Englischen adaptiert.