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Ukraine-Krieg: Bis zu zehn Millionen weitere Flüchtlinge?

1. April 2024

Russlands Vormarsch in der Ukraine könnte weitere Millionen Menschen zur Flucht veranlassen, sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus und warnt: Europa sei darauf nicht vorbereitet.

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Helfer in einem durch die russischen Streitkräfte zerstörten Haus in Kiew auf der Suche nach Verwundeten und Toten
Auch Kiew wird immer wieder von russischen Raketen beschossen (25.03.2024)Bild: Gleb Garanich/REUTERS

Das Szenario ist drastisch: "Wenn Putin sich durchsetzt und die Ukraine den Krieg verlieren sollte, könnte das noch einmal zehn Millionen Menschen zusätzlich zu Flüchtlingen machen." Das sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus im Gespräch mit der DW.

Porträt von Migrationsexperte Gerald Knaus
Gerald Knaus ist Chef der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI)Bild: Francesco Scarpa

Derzeit meldet Russland fast täglich weitere Einnahmen von ukrainischem Territorium. Beide Seiten beschießen sich massiv mit Raketen und Drohnen. Deutlich ist aber: Russland ist auf dem Vormarsch, ist besser ausgerüstet und benennt den Krieg seit kurzem als solchen und nicht mehr als "militärische Spezialoperation". Gleichzeitig bröckelt die internationale Unterstützung für das Land.

"Wenn jetzt große Städte wie Charkiw und andere zerstört werden, wenn die Opferzahlen steigen und die Hoffnung sinkt, dann erleben wir möglicherweise die weltweit größte Fluchtbewegung seit den 1940er Jahren", warnt Migrationsexperte Knaus. Ein Szenario, das der Innenexperte der SPD, Helge Lindh, im Gespräch mit der DW relativiert: "Ich rechne nicht mit so exorbitanten Zahlen, wie sie im Raum sind. Ein weiterer Anstieg der Zahlen, bei weiterer Dramatisierung des Kriegsgeschehens, wäre aber durchaus möglich. Aber es ist kein Grund zu sagen, es droht jetzt eine riesige Fluchtwelle."

Menschengruppe bei einer SPD-Veranstaltung. Eine Frau hält ein Plakat hoch. Darauf steht: Danke Deutschland für die Hilfe.
Kriegsflüchtlinge bedanken sich im August 2023 bei einer SPD-Kundgebung für die HilfeBild: Sachelle Babbar/ZUMA/picture alliance

Als vor rund zwei Jahren die russische Armee völkerrechtswidrig die gesamte Ukraine angriff, war die Solidarität in Deutschland sehr groß. Geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer wurden spontan unterstützt - von den Menschen und der Politik. Geflüchtete aus der Ukraine müssen in Deutschland kein bürokratisches Asylverfahren durchlaufen. Sie können direkt eine Arbeit aufnehmen, haben einen Anspruch auf Sozialleistungen, medizinische Versorgung und Sprachkurse.

Nach Angaben des Mediendienstes Integration halten sich derzeit von insgesamt 4,3 Millionen Kriegsflüchtlingen rund 1,15 Millionen in Deutschland auf. Die Zahl steigt kontinuierlich an. Politiker der konservativen Parteien CDU und CSU sehen das schon jetzt mit Besorgnis: "Wir als Europäer haben eine besondere Verantwortung für Kriegsflüchtlinge aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Aber natürlich stoßen auch unsere Kapazitäten irgendwann an Grenzen", sagt CDU-Innenpolitiker Thorsten Frei der DW.

Kurz nach Kriegsbeginn flohen die meisten Menschen in die mittelosteuropäischen Nachbarländer, insbesondere nach Polen. Zwischenzeitlich waren dort rund 1,6 Millionen Ukrainer registriert. Heute sind es knapp unter einer Million. Mittlerweile meldet Deutschland in absoluten Zahlen die höchste Zahl von Kriegsflüchtlingen. Rechnet man die Anzahl der Flüchtlinge auf die Gesamteinwohnerzahl, ergibt sich jedoch ein anderes Bild: Bulgarien hat demnach einen Flüchtlingsanteil von 3,4 Prozent, Tschechien 2,6 Prozent, Deutschland lediglich 1,4 Prozent. Das haben Berechnungen des Migrationsforschers Knaus ergeben. Auch Polen stemmt, gemessen an der Gesamtbevölkerung von rund 38 Millionen, einen Großteil der Versorgung von Geflüchteten, hier sind immer noch rund 2,6 Prozent der Menschen im Land Geflüchtete aus der Ukraine.

CDU-Politier Frei: Deutschland muss Hauptlast des Zustroms bewältigen

CDU-Innenexperte Thorsten Frei dagegen kritisiert, dass, in absoluten Zahlen gerechnet, "die Hauptlast des Zustroms Deutschland zu bewältigen hat". Die Bundesregierung müsse sich dringend für eine gleichmäßige Verteilung von ukrainischen Kriegsflüchtlingen einsetzen. Der DW sagt er: "Allein Baden-Württemberg hat mehr Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen als ganz Frankreich." Baden-Württemberg hat 11 Millionen Einwohner. Frankreich hingegen rund 68 Millionen.

SPD-Migrationsexperte Helge Lindh schaut in die Kamera. Ein junger Mann mit Bart und Brille, fotografiert im Regierungsviertel von Berlin.
SPD-Migrationsexperte Helge Lindh warnt vor einem "Drohszenario" von mehr KriegsflüchtlingenBild: Fionn Große

Helge Lindh von der Regierungspartei SPD hat Verständnis: "Wenn Geflüchtete vor der Wahl stehen: In welches Land gehe ich - Frankreich, Belgien, Italien? Wenn dann die sozialen Bedingungen in Deutschland mit der Möglichkeit der direkten Arbeitsaufnahme und besseren Sozialleistungen klar sind. Dann ist es nachvollziehbar, dass sie eher nach Deutschland kommen."

Die Angst der Anwohner von Kupiansk vor russischen Angriffen

Migrationsexperte Knaus: EU ist auf Worst-Case-Szenario nicht vorbereitet

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine fordert immer mehr Opfer. Er verursacht Flucht und Vertreibung. Russlands Präsident Wladimir Putin könnte sogar siegen. Oder einen Teil des Landes dauerhaft annektieren und Terror verbreiten. "Auf ein Worst-Case-Szenario, was dann folgen könnte, ist die EU nicht vorbereitet", kritisiert Knaus. Politiker von Regierung und Opposition sind ratlos, weil auch immer mehr Menschen aus anderen Ländern in Deutschland Schutz beantragen. CDU-Politiker Thorsten Frei rechnet mit möglicherweise weiteren 300.000 Asylanträgen in diesem Jahr. "Das betrifft direkt auch ukrainische Kriegsflüchtlinge, für die dann Unterbringungs- und insbesondere Integrationskapazitäten fehlen."

Betten in der Flüchtlingsunterkunft in der Turnhalle des Gymnasiums Kirchseeon
Viele Kommunen wissen nicht mehr, wie sie weitere Geflüchtete unterbringen sollen - Turnhalle des Gymnasiums Kirchseeon im März 2022Bild: Wolfgang Maria Weber/IMAGO

SPD-Politiker Helge Lindh sorgt sich: "Die Kommunen sagen schon jetzt, wir sind am Rande der Belastungsfähigkeit. Das heißt, wenn die Zahlen von Menschen aus der Ukraine noch einmal deutlich hochgehen, dann werden wir in Deutschland sofort wieder eine Migrationsdebatte haben."

Einig sind sich Lindh, Frei und Knaus aber in einem Punkt: Der beste Weg wäre es, die Ukraine massiv militärisch zu unterstützen, damit nicht weiter Menschen vor dem Krieg fliehen müssen.

 

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online