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PolitikEuropa

Die Rückkehr der atomaren Bedrohung

Andreas Noll
14. März 2022

Sie waren ein Symbol des Kalten Krieges, doch nach Drohungen aus Moskau sind Nuklearwaffen zurück im öffentlichen Bewusstsein. Auch die Bundesregierung will - für Atomwaffen zertifizierte - Tarnkappenjets beschaffen.

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Atomtest auf dem Mururoa-Atoll
Französischer Atomtest auf dem Mururoa-Atoll im Jahr 1971Bild: dpa/picture alliance

Als Russlands Präsident Wladimir Putin die russische Atomstreitmacht zu Beginn des Ukraine-Krieges "in ein besonderes Regime der Alarmbereitschaft" versetzte, war die Aufregung groß in Europa. Auf die Warnung an den Westen folgte der zweite Schritt: Anfang März schickte der Präsident atomar bewaffnete russische U-Boote und mobile Raketeneinheiten ins Manöver. Droht Putin seinen Gegnern im Westen mit einem Atomschlag?Mit mehr als 6300 Sprengköpfen unterhält Russland das größte Atomwaffenarsenal weltweit. Von den NATO-Partnern besitzen die USA mit rund 5800 nuklearen Gefechtsköpfen die größte Nuklearstreitmacht. Frankreich soll über fast 300 Gefechtsköpfe verfügen, das Vereinigte Königreich über rund 215. Genaue Zahlen gibt es nicht - im Umfeld der Nuklearprogramme halten die Staaten viele Informationen unter Verschluss.

Infografik nukleare Sprengköpfe weltweit 2020 DE
Ukraine-Konflikt - Russland testet Nuklearwaffen
Vorbereitung fürs Manöver: Im ostrussischen Kura wird eine Interkontinentalrakete zum Abschuss bereit gemacht Bild: imago images/Cover-Images

Wie schützt sich Europa vor einem Angriff mit Atomwaffen?

Auch wenn von einem "nuklearen Schutzschirm" der USA gesprochen wird, ließe  sich ein Atomangriff auf Europa militärisch nicht verhindern. Der "Schutzschirm" basiert vielmehr auf der Annahme, dass ein Gegner einen Angriff mit Kernwaffen auf NATO-Staaten nicht wagen würde, weil er mit einem Gegenschlag rechnen müsste.

Eine solche militärische Antwort könnten alle NATO-Atommächte anordnen und ausführen: die USA, Großbritannien und Frankreich. Alle drei Staaten verfügen über strategische Atomwaffen, die unter anderem von Atom-U-Booten abgeschossen werden können und damit einen Gegenschlag in jedem denkbaren Szenario ermöglichen.

Psychologie der Abschreckung

Die Nuklearmächte der NATO verfolgen unterschiedliche Abschreckungskonzepte. Frankreich und Großbritannien setzen auf eine so genannte Minimalabschreckung. Sie gehen nicht davon aus, dass es einen sich über mehrere Tage hinziehenden nuklearen Schlagabtausch geben würde. Ihnen reicht die Fähigkeit, Vergeltung zu üben oder mit einem "finalen Warnschuss" (Frankreich) dem Gegner Einhalt zu gebieten.

Frankreich | Atom-U-Boot Suffren | Präsident Emmanuel Macron
Der Staatspräsident entscheidet: Emmanuel Macron beim Besuch des Atom-U-Bootes "Suffren" in CherbourgBild: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Die USA setzen dagegen auf eine breiter angelegte Abschreckung, die auch Atomwaffen mit reduzierter Sprengkraft umfasst. Dahinter steht der Gedanke, dass die US-Militärplaner zumindest theoretisch die Möglichkeit eines "begrenzten Nuklearkriegs" ins Auge fassen.

Juristisch zu beachten gilt, dass fast jeder Einsatz einer Atomwaffe mit seinen massiven Auswirkungen auf Zivilisten gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen würde. Zu den theoretisch denkbaren Ausnahmen könnte dagegen ein begrenzter nuklearer Angriff auf ein Kriegsschiff auf hoher See zählen.

Wie beteiligt sich Deutschland an der Abschreckung?

Deutschland beteiligt sich an der atomaren Abschreckung in Europa mit Tornado-Kampfflugzeugen der Luftwaffe, die im rheinland-pfälzischen Büchel stationiert sind. Die Jets mit deutscher Besatzung würden im Ernstfall US-Atomwaffen ins Ziel fliegen. Mindestens einmal im Jahr trainieren die Bundeswehr-Piloten den Abwurf der US-Atombomben mit Attrappen.

Flash-Galerie Atommächte weltweit
Blick auf den Fliegerhorst Büchel, wo US-amerikanische Atomwaffen lagernBild: picture alliance / dpa

Neben Deutschland beteiligen sich auch die Niederlande, Belgien und Italien an der so genannten Nuklearen Teilhabe der NATO - ein Abschreckungskonzept der NATO, bei dem Verbündete Zugriff auf US-Atombomben haben. Zwischen 100 und 150 für diese Flugzeuge zertifizierte und vergleichsweise unpräzise Schwerkraftbomben lagern Berichten zufolge aktuell in Europa. "Die Bomben sind ein Relikt vergangener Zeiten, deren militärische Bedeutung heute gering ist", sagt Peter Rudolf, Politikwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, der zur nuklearen Abschreckung forscht. Um sie einsetzen zu können, müsste allerdings erst einmal die gegnerische Luftabwehr ausgeschaltet werden, was allenfalls in einem großen Krieg denkbar erscheint.

Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe

Obwohl es in der Regierungskoalition viele Kritiker der nuklearen Teilhabe gibt, steht für Bundeskanzler Olaf Scholz der deutsche Beitrag an der Nuklearen Abschreckung nicht zur Disposition. Unmittelbar nach der Invasion russischer Soldaten in die Ukraine stellte Scholz den Kauf von F35-Kampfflugzeugen der USA als Ersatz für die in die Jahre gekommenen Tornados in Aussicht, die bald ausgemustert werden müssen. 

Deutsche Luftwaffe trainiert für Schreckensszenario Atomkrieg
Nachfolger gesucht: In der Bundeswehr lässt sich lediglich der Tornado-Kampfjet mit Atomwaffen bestückenBild: Rainer Jensen/dpa/picture-alliance

Seit diesem Montag ist nun offiziell, dass die Luftwaffe in einem milliardenschweren Modernisierungsprogramm mit F-35-Tarnkappenjets ausgerüstet wird. Die F-35 gilt als modernstes Kampfflugzeug der Welt und wird auch für die Nukleare Teilhabe Deutschlands gekauft. Wegen einer speziellen Form und Außenbeschichtung ist die Maschine für gegnerisches Radar nur schwer zu entdecken.

Im vergangenen Jahr haben die USA damit begonnen, eine überarbeitete Version der Schwerkraftbombe zu produzieren, die unter anderem über eine höhere Zielgenauigkeit verfügen soll.

Auch wenn Politiker die Nukleare Teilhabe bis heute als wichtiges politisches Symbol betrachten, hatte sie im Kalten Krieg für Deutschland eine weitaus höhere Bedeutung als heute. Zu Zeiten des Warschauer Paktes wäre Deutschland bei einem bewaffneten Konflikt mit der NATO zum zentralen Schlachtfeld geworden. Die nukleare Teilhabe eröffnete der Bundesregierung in Bonn die Möglichkeit, zumindest begrenzt Einfluss auf die Nuklearstrategie des Bündnisses nehmen.

Wer plant den Einsatz von Atomwaffen?

Bei der NATO existiert seit 1966 die Nukleare Planungsgruppe (NPG), in der über Einsatzszenarien von Atomwaffen gesprochen wird. In der NPG sind heute alle NATO-Staaten vertreten -  mit Ausnahme Frankreichs, das in Abschreckungsfragen einen eigenen Weg geht. Das Gremium trifft sich mindestens einmal im Jahr auf Ebene der Verteidigungsminister und im Bedarfsfall auf Botschafterebene.

Brüssel Belgien | NATO Sitzung zur Ukrainekrise
Die NATO-Verteidigungsminister treffen sich einmal pro Jahr in der Nuklearen Planungsgruppe in BrüsselBild: Olivier Matthys/AP/picture alliance

Neuere politische Leitlinien über den Einsatz von Nuklearwaffen der NATO sind öffentlich nicht bekannt. Das letzte Dokument stammt aus den 1980er Jahren. "Die NATO sagt zwar immer, sie sei ein nukleares Bündnis, aber soweit erkennbar, gibt es keine Nukleardoktrin. Was in der Nuklearen Planungsgruppe besprochen wird, ist für Außenstehende nicht erkennbar“, analysiert der Politikwissenschaftler Rudolf. Eine Grundsatzentscheidung hat gleichwohl bis heute Bestand: Auch wenn es in den USA darüber immer wieder Debatten gibt, hat die NATO bis heute nicht auf die Möglichkeit zum Ersteinsatz von Nuklearwaffen verzichtet.

Wer entscheidet über den Einsatz von Atomwaffen?

Über den Einsatz der in Deutschland, Italien, Belgien und den Niederlanden lagernden US-Atomwaffen entscheidet zunächst der US-Präsident. Er würde die Bomben freigeben und das Stationierungsland (z.B. Deutschland) müsste dem Abwurf der Bomben durch eigene Kampfjets zustimmen. Vor einem solchen Einsatz würde es wahrscheinlich eine Konsultation mit den anderen NATO-Allliierten im Nordatlantikrat geben.

Über den Einsatz der französischen Nuklearstreitmacht entscheidet ausschließlich der französische Präsident - im Vereinigten Königreich liegt die Entscheidungsgewalt bei der britischen Premierministerin. Die drei Entscheidungszentren für Nuklearwaffen gelten als Element der Abschreckung, da sie dem Gegner die Kalkulation erschweren, wie die NATO bei einem Angriff genau reagieren würde.

Einsatz im Ukraine-Krieg?

Der russischen Militärdoktrin ist der Gebrauch von taktischen Atomwaffen auf dem Gefechtsfeld nicht völlig fremd. Russland besitzt entsprechende Waffen genauso wie die Vereinigten Staaten. In den Medien wurde nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine über einen möglichen Einsatz solcher taktischen Atomwaffen über dem Schwarzen Meer diskutiert, doch bislang verfügen westliche Militärbeobachter über keine Hinweise, dass das russische Militär den Einsatz taktischer oder sub-strategischer Nuklearwaffen in Betracht ziehen oder sogar vorbereiten könnte.

BG Nuklearwaffen | russische 9M729 Rakete
Nuklear bestückter Marschflugkörper: Russland hat (theoretisch) viele Optionen für einen AtomwaffeneinsatzBild: Pavel Golovkin/AP/picture alliance

"Die russischen Drohungen haben vor allem eine politische Funktion", sagt der Politikwissenschaftler Rudolf. "Es ist die Botschaft an die USA, sich nicht über eine gewisse Grenze in der Ukraine einzumischen“. Ähnliche Drohungen mit Nuklearwaffen hat es auch im Umfeld der Annexion der Krim vor acht Jahren gegeben.

Atomwaffen vs. chemische Waffen

Chemische Waffen sind durch die Chemiewaffenkonvention international geächtet. Russland hat vor fast fünf Jahren seinen letzten chemischen Sprengkopf offiziell vernichtet. Die USA wollen dieses Ziel im kommenden Jahr erreichen. Anders als bei chemischen Waffen, auf die auch nach dem Zweiten Weltkrieg (zuletzt im Bürgerkrieg in Syrien) nachweislich zurückgegriffen wurde, gab es bislang nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki in Japan keinen weiteren Einsatz von Nuklearwaffen.

Flash-Galerie Atommächte weltweit
Vollständige Vernichtung: Zerstörungen nach dem Einsatz einer Atombombe im japanischen Hiroshima am 6. August 1945Bild: AP

Peter Rudolf erklärt: "Es gibt seit 1945 offenbar eine normative Schwelle - trotz aller Überlegungen in den USA, die es in den 1950er und 1960er Jahren gab, Nuklearwaffen in Konflikten einzusetzen. Die politischen Entscheidungsträger haben eine große Zurückhaltung entwickelt. Das dürfte mit einem moralischen Unbehagen zu tun haben, aber auch mit der Angst vor den Folgen. Weil der Nuklearwaffeneinsatz eine Kette auslösen könnte, an deren Ende die wechselseitige Vernichtung steht."