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Ukraine: Russlands Krieg und Deutschlands Zeitenwende

23. Februar 2023

Das erste Jahr von Russlands Groß-Invasion in der Ukraine hat die deutsche Politik grundlegend verändert. Doch das Land tut sich schwer mit der "Zeitenwende".

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Nach russischem Raketenangriff Anfang Februar: Zerstörung im ostukrainischen KramatorskBild: Vyacheslav Madiyevskyy/REUTERS

Es waren dreieinhalb Tage seit der russischen Invasion in der Ukraine vor einem Jahr vergangen, als der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Parlament des Landes eine Rede hielt, die in die deutsche Geschichte eingehen sollte: Die Rede von der Zeitenwende für Deutschland. "Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor", sagt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz an diesem Sonntag nach Invasionsbeginn im deutschen Parlament. "Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen", so der deutsche Bundeskanzler am 27. Februar 2022.

Deutschland Bundeskanzler Scholz steht während seiner Rede zur Zeitenwende am Rednerpult des Bundestages, eine verzerrte Spiegelung in der gesamten linken Bildhälfte unterstreicht den historischen Moment
Zeitenwende-Rede an einem Sonntag: Bundeskanzler Olaf Scholz in der Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 27. Februar 2022Bild: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Nacht der Verzweiflung in New York: Deutschland schläft 

Gut 72 Stunden zuvor hatte UN-Generalsekretär António Guterres den russischen Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York noch einmal, ein letztes Mal inständig gedrängt, auf den vollumfänglichen Angriff Russlands gegen die Ukraine zu verzichten. In Deutschland schob sich der Stundenzeiger von drei Richtung vier Uhr in der Nacht. Die meisten Entscheidungsträger in der deutschen Hauptstadt Berlin haben diesen Moment verschlafen. Es ist dieser Moment, in dem für Deutschland eine historische Weichenstellung vollzogen wurde. Ohne dass die größte Volkswirtschaft Europas daran selbstbestimmt etwas hätte ändern können. Deutschland ist keine Militärmacht. Der russische Präsident Putin schickte seine Armee Richtung Kiew mit dem Ziel, Grenzen in Europa zu verschieben. Zuletzt hatte das der serbische Diktator Slobodan Milosevic in den 1990er Jahren versucht, mit dem Ziel, ein Großserbien auf dem Westbalkan zu schaffen.

Jetzt geht es um viel mehr: Der größte Flächenstaat der Welt, der Atomstaat Russland, agiert als imperiale Macht, die jene Nachkriegsordnung in Frage stellt, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen am Endes des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurde. Das sagt auch der US-Historiker und Yale-Professor Timothy Snyder.

Die UN-Charta war auf Grundlage der Erfahrungen der Welt mit dem imperialistischen deutschen "Dritten Reich" unter der nationalsozialistischen Führung Adolf Hitlers geschrieben worden. Mehr noch: "Mit dem Überfall auf die Ukraine will Putin nicht nur ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Zeitenwende-Rede. "Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte." Aus der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, die das friedliche Ende des Kalten Krieges in Europa einleitete, entstand nach Ende des Kalten Krieges die heutige OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Die sollte nach 2014 den Frieden in den besetzten Gebieten in der Ost-Ukraine wieder herstellen, nachdem der Kreml dorthin bereits 2014 russische Soldaten entsandt hatte - als Antwort auf die proeuropäische Euromaidan-Revolution im Februar 2014 und den Sturz des Putin-treuen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Die OSZE zog mit Russlands Angriff aus der Ukraine ab. Putin, so Scholz in seiner Zeitenwende-Rede, stelle sich "auch ins Abseits der gesamten internationalen Staatengemeinschaft".

Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 Quiz 50 Jahre Deutsche Welle Frage 4
Der moskautreue DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker (li.) und der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt 1975 in HelsinkiBild: Bundesbildstelle Bonn

Milliarden Euro für die Bundeswehr: Kaum Bestellungen

Jetzt also: Zeitenwende. Die Bundeswehr soll mit einem Sondervermögen von mehr als 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden. Ein Jahr später lassen sich die Bestellungen bei der deutschen Rüstungsindustrie aber nur langsam an. Und: Die Ukraine wird aus Deutschland seit einem Jahr mit Kriegswaffen ausgestattet. Es ist ein Bruch mit der deutschen Politik, möglichst keine Waffen in Kriegsgebiete zu schicken. Die Deutschen sind nach Umfragen jedoch mehrheitlich damit einverstanden. Als im Laufe des Jahres der Druck auf Berlin immer stärker wird, auch Schützenpanzer und Kampfpanzer des Typs Leopard aus deutscher Produktion zu genehmigen und auch selbst zu liefern, spaltet die Diskussion das Land: Eine Hälfte ist dafür, der anderen geht das zu weit. Und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sperrt sich zunächst auf Druck vom linken Flügel seiner Partei SPD gegen diesen Schritt.

Leopard gegen Abrams: Panzer-Junktim des deutschen Bundeskanzlers

Schließlich lenkt der Bundeskanzler ein, verbindet die Entscheidung aber mit einem Junktim: Nur wenn auch die USA Kampfpanzer des Typs Abrams lieferten, wolle er mitziehen. Im Januar 2023 treffen sich die mehr als 50 Unterstützernationen der Ukraine unter Führung der USA zu ihrem achten Treffen auf Ministerebene im Rahmen der "Ukraine-Kontaktgruppe". Wenige Tage danach fällt die Entscheidung für westliche Kampfpanzer. Allerdings hatte es der deutsche Bundeskanzler versäumt, bis zu diesem Zeitpunkt eine Koalition der Leopard-Lieferanten zu bilden. Es scheint, dass "Zeitenwende" bislang bedeutet: Deutschland agiert nicht, Deutschland läuft hinterher. Die USA hingegen bereiten im Laufe des vergangenen ersten Kriegsjahres immer wieder die Schritte weiterer Waffenlieferungen vor - auch wenn die Lieferung schwerer Waffen kontrovers diskutiert wird. So das US-Repräsentantenhaus im Juni 2022, indem die Abgeordneten 100 Millionen US-Dollar zur Ausbildung ukrainischer Piloten an westlichen Kampfjets genehmigen. Die offizielle Entscheidung zur Lieferung von Kampfjets steht noch aus. Doch die Vorbereitungen laufen, diskutiert wird vor allem das Modell F-16, das seit dem Kalten Krieg am häufigsten gebaute westliche Kampfflugzeug.

Anders als bei den Leopard-2-Panzern hat Deutschland bei dem US-amerikanischen Kampfflugzeug nichts mitzureden, räumt Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius während eines Besuchs der Bundeswehr im norddeutschen Ort Munster ein, wo ukrainische Soldatinnen und Soldaten jetzt an Leopard-2-Panzern ausgebildet werden. "Ich kann für die Bundesrepublik Deutschland nur sagen, dass alle Diskussionen über Kampfjets sich um Typen führen, über die die Bundesrepublik nicht verfügt, von daher ist das eher eine Frage an andere Herkunftsländer als Deutschland", so Pistorius auf eine Nachfrage der DW.  "Grundsätzlich muss man sagen, dass das Kriegsgeschehen in der Ukraine eines ist, bei dem man nie etwas absolut ausschließen kann, aber für unsere Kampfflugzeuge gilt das wahrscheinlich in diesem Maße nicht." Die deutsche Luftwaffe fliegt vor allem den Eurofighter.

Deutschland Verteidigungsminister Pistorius auf einem Leopard 2
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius Anfang Februar in einem Kampfpanzer Leopard 2Bild: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Sollte die Entscheidung, der Ukraine F-16-Jets zu liefern, einmal gefällt sein, wird es sehr schnell gehen können mit der Lieferung. Polen, aber auch die Niederlande haben der Ukraine F-16-Kampfjets angeboten, wenn die Verbündeten in der NATO und der "Ukraine-Kontaktgruppe" sich auf eine solche Lieferung einigen.

Es bleibt der Eindruck: Die USA halten sich Optionen offen – Deutschland läuft hinterher, obwohl es Anspruch auf Führung in Europa anmeldet in der "Zeitenwende".

Flüchtlinge in Deutschland
Der Berliner Hauptbahnhof wird im Frühjahr 2022 zum wichtigsten Anlaufpunkt für Kriegsflüchtlinge aus der UkraineBild: Hannibal Hanschke/Getty Images

Dabei zeigen sich die Deutschen selbst dem Schicksal der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber empathisch - und großzügig: Mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine sind im Land aufgenommen worden. Mehr geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer leben heute nur in Polen.

Und die Deutschen spenden Geld: 2022 wahrscheinlich mehr als eine Milliarde Euro aus privaten Geldbeuteln für die Nothilfe in der Ukraine.

Allerdings hält der deutsche Staat nicht Schritt mit dieser Großzügigkeit seiner Bürger. Zuletzt rechnen Ökonomen des deutschen Instituts für Weltwirtschaft (IfW) aus dem norddeutschen Kiel einmal nach und verglichen nach einem Jahr russischer Invasion in der Ukraine die Leistungen Deutschlands in anderen Kriegen.

Demnach beträgt die Ukraine-Hilfe des deutschen Staates gemessen am Bruttoinlandsprodukt ein Drittel des Betrages, den Deutschland 1990 und 1991 an die USA im Zuge des zweiten Golfkrieges überwiesen hat. Mit der "Operation Wüstensturm" hatte die US-Armee vor drei Jahrzehnten den kleinen Golfstaat Kuwait befreit, der zuvor von seinem Nachbarn Irak unter Führung des Diktators Saddam Hussein überfallen worden war. Der Überfall drohte die weltweite Rohöl-Versorgung in jahrelange Turbulenzen zu stürzen. Das wirtschaftlich starke Westdeutschland spielte damals in der globalen Sicherheitspolitik keine Rolle, es verfolgte seine Interessen mit der sogenannten "Scheckbuchdiplomatie". Drei Jahrzehnte später rollen schwere Waffen aus deutscher Produktion an der Front im Osten und Süden der Ukraine. Und Deutschland tut sich schwer damit, sich endgültig von der liebgewonnenen Gewohnheit zu verabschieden – seine Interessen allein über das Geld durchsetzen zu können.