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Ukraine: Ungewöhnliche Aufgabe eines Geheimdienstes

15. Juni 2009

Die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur begann in der Ukraine mit fast 20-jähriger Verspätung. Das Besondere an der ukrainischen Vergangenheitsbewältigung: diese Aufgabe wurde dem Geheimdienst SBU anvertraut.

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Präsident Viktor Juschtschenko (Foto: RIA Novosti)
Erst unter Präsident Viktor Juschtschenko hat die Aufarbeitung begonnenBild: RIA Novosti

Marianne Birthler, die Beauftragte der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen, machte im Herbst 2008 in Kiew eine besondere Erfahrung. Als "Gleichgesinnter" lud sie der Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU Valentyn Nalyvajtschenko zur Zusammenarbeit in Fragen der Vergangenheitsbewältigung ein. Zu wenig Erfahrung hätten seine Archivare, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.

"Sie machen keine schlechte Arbeit"

Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen (Foto: dpa)
Die deutsche Birthler-Behörde gilt als VorbildBild: dpa - Bildfunk

Bisher geheime Akten über die Verbrechen des Sowjetregimes am ukrainischen Volk zu veröffentlichen, ist seit 2005 unter Präsident Viktor Juschtschenko eine besondere staatliche Angelegenheit. Gerhard Simon, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln, beschäftigt sich schon lange mit dem Thema. Dass ausgerechnet der Sicherheitsdienst - und nicht, wie in den meisten postsozialistischen Ländern, eine unabhängige Institution - mit der Aufarbeitung beauftragt wurde, stört Simon nicht: "Soweit ich das beurteilen kann, vom Ergebnis her, machen sie keine schlechte Arbeit. Deshalb finde ich es positiv, dass der Sicherheitsdienst diese Arbeit macht. Denn ich sehe nicht recht, wer es sonst machen könnte."

Der Sicherheitsdienst arbeitet eng mit dem "Institut des Nationalen Gedächtnisses" zusammen – einem von ehemaligen Dissidenten geleiteten Gremium, das im Auftrag der Regierung "den Kampf des ukrainischen Volkes um seine Unabhängigkeit und die damit verbundenen Repressionen" erforscht. "Man denkt: Aha, das ist die Institution, die so was eigentlich machen sollte", räumt Gerhard Simon ein. "Von dem Namen her schon. Soweit ich aber die Sache beurteilen kann, ist diese Institution sehr stark in der Hand - ich will es mal vorsichtig ausdrücken – nationalistischer Leute, während die SBU-Führung neutral und zurückhaltend ist", betont Professor Simon.

Hochexplosives Thema

Die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit ist für die ohnehin tief gespaltene ukrainische Gesellschaft ein politisch hochexplosives Thema. Schon der erste Schritt – die Veröffentlichung geheimer Akten über die Hungersnot der 30-er Jahre, die Millionen Ukrainer das Leben kostete - wurde in Moskau als Provokation empfunden. Und die prorussischen Kräfte im ukrainischen Parlament sprachen empört von einem "Versuch, die beiden Völker zu zerstreiten". Auf der anderen Seite, so Gerhard Simon, neigen die ehemaligen Dissidenten und "national bewusste" Politiker dazu, den schwarzen Peter den Russen zuzuschieben. Dass Ukrainer selbst Teil des verbrecherischen Systems waren, werde dabei oft übersehen.

Bisher ist die Vergangenheitsbewältigung in der Ukraine hauptsächlich auf die Verbrechen des Stalin-Regimes konzentriert. Präsident Juschtschenko will weiter gehen. In einem im Januar 2009 veröffentlichten Erlass verordnet er, alle in den ukrainischen Archiven verbleibenden Dissidenten-Akten zugänglich zu machen. Nach Schätzungen von Menschenrechtlern gibt es in der Ukraine noch etwa 800.000 geheime "politische" Akten aus der Sowjetzeit. Denn nach der Wende wurden lediglich die Akten rehabilitierter politischer Häftlinge geöffnet, während der Rest bis vor Kurzem geheim blieb.

Spitzel-Namen bleiben geheim

Mahnmal Opfer der Hungersnot in Kiew (Foto: dpa)
Mahnmal für Hungertote der 30er Jahre: ein umstrittenes ThemaBild: picture-alliance / dpa

Doch wer im Auftrag der KGB spitzelte, bleibt weiter geheim. Ein Großteil der Informationen über die zahlreichen KGB-Spitzel seien schon kurz vor der Wende entweder vernichtet oder nach Moskau gebracht worden, erklärt Menschenrechtler Yevgen Sacharow. Aber auch das, was über die KGB-Spitzel in Kiew noch zu finden ist, wird seiner Meinung nach geheim bleiben: "Ich denke, dass diese Akten nie geöffnet werden. Denn davon wären sehr viele heute noch aktive Politiker, Wissenschaftler und Künstler betroffen. Sehr, sehr viele Menschen waren an diesem System beteiligt – ob freiwillig oder unter Druck."

Gleichzeitig verweist Sacharow auf die immer noch nicht abgeschlossene Reform des Geheimdienstes SBU. So wurde vor einigen Wochen stolz bekannt gegeben, dass der Sicherheitsdienst auf die seit der Sowjetzeit üblichen Spitzel an den Hochschulen des Landes verzichtet - fast 20 Jahre nach der Wende.

Autor: Eugen Theise

Redaktion: Stefan Dietrich