Ukrainer in besetzten Gebieten: "Ich habe da niemanden mehr"
24. November 2024Die 70-jährige Ljubow läuft als erste auf die belarussisch-ukrainische Grenze zu. Mit ihrem Koffer schlängelt sie sich an Panzersperren vorbei und kommt so zum Häuschen der freiwilligen Helfer, bei denen es warm ist. Ljubow holt zunächst einen roten Lippenstift aus ihrer Handtasche und schminkt sich.
Sie stammt aus einem Dorf nahe Mariupol, das unter russischer Kontrolle steht. Ihre Söhne und Enkel leben in Odessa. Vor der umfassenden russischen Invasion besuchte sie ihre Kinder mehrmals im Jahr. "Ich nahm den Bus und war am nächsten Morgen schon da", erzählt Ljubow. Als die russische Armee Teile des Ostens und Südens der Ukraine besetzte, wurde die Familie durch die Frontlinie getrennt. Seitdem muss man nach Odessa mindestens einen Umweg über Russland und Belarus - und zurück auch über EU-Staaten nehmen.
Außerdem wurden alle Kontrollpunkte zu der von Russland annektierten Krim und zu den selbsternannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" geschlossen, ebenso wie die Übergänge nach Russland und Belarus. Die ukrainisch-belarussische Grenze zwischen Mokrany und Domanowe ist für Ukrainer aus den russisch besetzten Gebieten heute die einzige Möglichkeit, noch in das von Kyjiw kontrollierte Staatsgebiet zu gelangen. Dort finden sich zumeist Menschen ein, die weder Reisepässe noch Geld für eine Einreise in die EU haben.
Russlands Invasion: "Ich dachte, es würde schnell wieder vorbeigehen"
Ljubow hat zum ersten Mal die besetzten Gebiete verlassen. "Ich dachte, all dies würde schnell wieder vorbeigehen, aber so ist es nicht gekommen." Nun vermisse sie ihre Kinder und Enkel, die sie seit drei Jahren nicht gesehen habe. Außerdem könne sie das Brennholz für den Winter nicht mehr allein vorbereiten. "Ich habe dort niemanden mehr."
300 Euro kostete die zweitägige Busfahrt mit Übernachtung, die Ljubow gemeinsam mit anderen Menschen durch Russland und Belarus bis fast an die Grenze zur Ukraine führte. Die letzten zwei Kilometer musste sie aber zu Fuß zurücklegen. "Gott sei Dank haben unsere Grenzschützer meine Tasche auf einen Karren geladen", erzählt sie.
Am Kontrollpunkt wird sie von ukrainischen Beamten überprüft. Sie gibt offen an, auch einen russischen Pass zu besitzen. Nur damit habe sie eine Rente erhalten. "Ich bekomme 16.000 Rubel (umgerechnet rund 160 Euro), doch die Kohle zum Heizen kostet 40.000 Rubel. Deshalb musste ich fast drei Monate sparen und hungern, auch für Brennholz und Strom", beklagt sie.
"Aus dem eigenen Haus geworfen"
Am Kontrollpunkt wartet Irina, die ihre 83-jährige Schwiegermutter aus Luhansk abholt. "Sie wurde aus ihrem eigenen Haus geworfen", berichtet die Frau empört. Es sei von den Besatzern beschlagnahmt worden. Irina erzählt, sie habe noch ums Haus kämpfen wollen und beim russischen Militär angerufen. "Der Mann, der sich als Oberst Alexej vorstellte, sagte lediglich, dass meine Schwiegermutter die Schlüssel abzugeben habe."
Irina macht sich Sorgen, ob ihre Schwiegermutter die Reise übersteht. Ihr Zustand habe sich durch den Stress verschlechtert. Als die Rentnerin endlich am Kontrollpunkt ist, sucht sie in den Taschen nach ihrem Pass und gerät in Panik. Die Schwiegertochter und freiwillige Helfer versuchen sie zu beruhigen. Am Ende findet sie das Dokument. Für die alte Dame ist der Kontrollpunkt der schnellste und günstigste Weg ins von Kyjiw kontrollierte Staatsgebiet. Viele kommen hierher, weil sie auch ohne Papiere durchgelassen werden.
"Warum wollen Sie nicht in Russland bleiben?"
Nach dem Grenzübertritt geht die Reise weiter, meist Hunderte Kilometer nach Osten oder Süden, wo Familienangehörige und Freunde leben. Die 23-jährige Alina, die Mariupol verlassen hat, will nach Odessa. Dorthin ist sie gezogen, noch bevor die russische Invasion begann. Im Sommer besuchte sie zum ersten Mal seit drei Jahren ihre Eltern in Mariupol. Auf die Frage, wie sie dort leben, sagt sie kurz: "Sie überleben!" Alinas Mutter arbeitet in einem Friseursalon, ihr Vater ist Bauarbeiter, denn "andere Jobs gibt es dort nicht".
Um nach Mariupol zu gelangen, fuhr Alina durch die Ukraine, Polen, Belarus und Russland. Die fünftägige Reise kostete sie etwa 700 Euro. Nach Russland und in die besetzten Gebiete konnte sie ohne Probleme einreisen, weil sie über eine örtliche Registrierung verfügt. "Das Mariupol, das ich kannte, existiert nicht mehr", sagt Alina über ihre Heimatstadt. Kopfschüttelnd erinnert sie sich an die Frage des russischen Grenzbeamten, der sie aus den besetzten Gebieten ausreisen ließ und dabei fragte: "Warum wollen Sie nicht in Russland bleiben?" Moskau hat die Gebiete im September 2022 annektiert.
"Viele Menschen hoffen dort auf die Ukraine"
Alle Ankömmlinge erhalten eine Einreisebescheinigung. Von den freiwilligen Helfern bekommen sie einmalig einen Geldbetrag, bereitgestellt vom vom Norwegischen Flüchtlingsrat, sowie das Starterpaket eines ukrainischen Mobilfunkanbieters. Die Menschen rufen sofort ihre Verwandten an. "Ich bin schon in der Ukraine!" ruft unter Tränen der Rentner Oleksandr zu seiner Frau am Telefon, die schon einige Tage früher in Kyjiw angekommen war.
Das Ehepaar hat die Stadt Altschewsk in der sogenannten "Volksrepublik Luhansk" verlassen. An der Grenze zu Estland wurde Oleksandr ohne einen ukrainischen Pass nicht durchgelassen, daher nahm er den Weg über Belarus. Auf die Frage, ob er zurück nach Altschewsk wolle, sagt er: "Alle meine Familienangehörigen sind weg. Früher haben wir allein 50 Gläser eingemachte Gurken pro Winter verbraucht, jetzt stehen die vollen Gläser im Keller herum."
Die Menschen versammeln sich an einem Bus, der sie nach Kowel, der nächstgelegenen Stadt bringt. Oleksandr erzählt von seinen Katzen, die er bei seinen Nachbarn zurücklassen musste. "Manche halten uns für Verräter, aber niemand kann uns in die Seele schauen", erzählt der Mann beim Verladen der Koffer in den Bus und betont: "Ich kann Ihnen versichern, dass dort viele Menschen auf die Ukraine hoffen."
"Vielleicht habe ich kein Haus mehr"
Der 59-jährige Wolodymyr hat die kleinste Tasche. Er kam direkt aus einem Krankenhaus in Skadowsk im Gebiet Cherson. Er stammt aus einem Dorf nahe der Stadt Oleschky. Vor einigen Monaten kam er ins Krankenhaus, nachdem eine Drohne in seinem Hof explodiert war. "Mir flog es von allen Seiten um die Ohren!"
Nun möchte Wolodymyr in Cherson seine medizinische Behandlung fortsetzen, er hat eine Wirbelsäulenverletzung und gebrochene Rippen. Außerdem wartet dort seine Familie auf ihn, eine Tochter, drei Enkelkinder und zwei Schwestern. Früher hatte er sie oft besucht, die Fahrt dauerte nur eine Stunde. "Jetzt bin ich schon die zweite Woche unterwegs", seufzt er.
"Die Russen sagen, sie seien gekommen, um uns zu befreien", sagt Wolodymyr. "Dabei wir haben gut gelebt und hatten Arbeit. Die Drohne hat meine Küche zerstört. Wie es jetzt dort aussieht, weiß ich nicht. Vielleicht habe ich gar kein Haus mehr."
"Es ist nicht unsere Schuld"
Heute fahren vier Busse mit 44 Passagieren nach Kowel. Dort kommen die Menschen in die Notunterkunft einer evangelischen Kirche, wo sie verpflegt und beim Kauf von Bahn- oder Busfahrkarten unterstützt werden. Wer erst am nächsten Tag weiterreist, kann dort übernachten.
Die 70-jährige Ljubow ruht sich für ihre Weiterfahrt nach Odessa aus. Im Frühjahr will sie in ihr Dorf in der Nähe von Mariupol zurückkehren. Über den Kontrollpunkt Mokrany-Domanowe an der belarussisch-ukrainischen Grenze kann man aber nur in die Ukraine ein- und nicht ausreisen. Ljubows Rückweg wird daher über die EU führen. Das macht die Reise länger und teurer.
Die Frau fürchtet, wenn sie in Odessa bleibt, könnte sie ihr Haus verlieren. Denn die russischen Besatzungsbehörden beschlagnahmen Häuser und Wohnungen, in denen niemand wohnt, und die nicht gemäß russischen Bestimmungen umgemeldet wurden. Dies ist einer der Gründe, warum Ukrainer in die besetzten Gebiete zurückkehren. "Man kann uns nicht vorwerfen, dass wir geblieben sind", sagt Ljubow. Sie mag nicht daran denken, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können. "Ich möchte nicht, dass mir mein Haus weggenommen wird, alle meine Sachen, Fotos. Ich will nicht, dass jemand darin herumwühlt."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk
Anmerkung der Redaktion: Wir haben die Schreibweise der ukrainischen Hauptstadt umgestellt auf "Kyjiw" (statt, wie bisher, "Kiew"). Damit transkribieren wir den Namen korrekt aus der ukrainischen Sprache - so, wie wir auch bei allen anderen ukrainischen Ortsnamen verfahren.