Sport in der Ukraine: Das Leben mit dem Krieg
12. April 2022Ganze fünf Minuten blieben den Burchoks am 24. Februar - dem Tag des Beginns des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Ein sehr kurzer Moment für eine Familie, um über ihr zukünftigen Leben zu entscheiden. Aber der Bombeneinschlag im Nachbarhaus, bei dem der Sohn der Burchoks drei Meter durch die Luft geflogen war, aber wie durch ein Wunder unverletzt blieb, ließ keine andere Wahl.
Die Familie schnappte sich das Nötigste: Geld, Reisepässe, ein paar Klamotten, einen Tennisschläger für Tochter Anna. Die Garage mussten sie mit einer Axt öffnen, weil das Tor durch die Explosion verbogen war. Mit dem Auto ging es aus einem Vorort von Kiew in die westliche Ukraine zu Freunden. "Wir hatten wirklich große Angst. Wir hatten keine andere Wahl", sagt Mutter Olja Burchok der DW. Der Vater, ein Arzt, blieb in der Hauptstadt, um zu helfen.
Mit im spärlichen Gepäck der restlichen Familie: die Träume der Tochter, Tennisprofi zu werden. "Das war schon immer mein großer Wunsch. Tennis ist mein Leben", sagt Anna Burchok. An sechs Tagen in der Woche, jeweils mindestens vier Stunden plus Fitnesstraining hatte die Zwölfjährige bis dahin trainiert. Sie gehörte zu den zehn besten Spielerinnen ihres Jahrgangs in der Ukraine.
Nach einem Monat ohne Training im verhältnismäßig sicheren Westen der Ukraine sind die Burchoks dann nach Leverkusen gereist, wo Anna nun an der Tennisakademie von Robert Orlik beim RTHC Bayer Leverkusen wieder Tennis spielen kann. "Wir sind so dankbar dafür, dass wir hier in Sicherheit sind und so herzlich aufgenommen wurden", sagen Olja und Tochter Anna unisono.
U17-Fußballer aus Kiew in Hennef
Ebenfalls weit von ihrer Heimat entfernt ist eine U17-Mannschaft aus Kiew, die auf Initiative von Stefan Rönz, Mitglied im Trainerlehrstab im Fußball-Verband Mittelrhein, in der Sportschule Hennef wohnen kann. Der 50-Jährige unterhält seit längerer Zeit gute Kontakte zu Dynamo Kiew und sah sich nach Kriegsausbruch direkt gefordert zu helfen. Im Rahmen einer Hilfsaktion und den Verbindungen zu Wladimir Zharikow, dem Direktor der Jugend-Akademie von Dynamo Kiew und Vizepräsidenten des Fußballverbandes Kiew, kamen auch die 28 Nachwuchsfußballer nach Deutschland.
"Wladimir hat sehr viele Kontakte in Kiew und im ganzen Land und er hilft unermüdlich dabei, Menschen aus der Ukraine herauszubringen", sagt Rönz der DW. "Wir kümmern uns jetzt darum, dass die Jungs hier gut leben, Fußball spielen können und und ein wenig Alltag haben. Die sind alle froh, dass sie außer Landes sind", sagt Rönz. Täglicher Kontakt zu den Eltern in der Ukraine wird mit Handys und via Internet aufrecht erhalten.
Fußball ist für die Jugendlichen momentan aber eher zweitrangig. "Ich möchte erst zurück und die Ukraine wieder aufbauen helfen. Dann erst möchte ich eine Fußballkarriere machen", sagt etwa Ivan, einer der jungen ukrainischen Fußballer.
Schwere Zeiten für den ukrainischen Fußball
"Die Frage, wie man Sport machen kann, wie man Fußballtraining organisieren kann, stellt sich aktuell nicht, weil das zu gefährlich ist", sagt Wladimir Zharikow der DW. "Die Behörden in Kiew gestatten gerade aus Sicherheitsgründen keine Großveranstaltungen, vor allem nicht mit Kindern." Der 59-Jährige ist vor Ort in Kiew geblieben und versucht Tag und Nacht von dort aus das Leben der jungen Fußballer zu gestalten und zu verwalten.
"Überwiegend bin ich damit befasst, die Trainingseinheiten der Gruppen zu koordinieren, die ins Ausland gegangen sind und Unterstützung für sie zu organisieren", sagt Zharikow. In erster Linie geht es in der momentanen Kriegs-Situation um den Schutz der jungen Spieler. "Sie sind zurzeit in Sicherheit. Die Spieler haben die Möglichkeit ihrer Leidenschaft nachzugehen, zu trainieren, aber auch zur Schule zu gehen", sagt Zharikow. Wie es dann - wenn irgendwann Frieden eingekehrt ist - weitergeht? "Man kann ganz klar sagen, dass dem ukrainischen Fußball schwere Zeiten bevorstehen", sagt Zharikow
Hilfe für die Sportler in und aus Deutschland
"Unser Ziel ist es, dass es keine Sportveranstaltung mehr auf der Welt gibt, auf der nicht gegen diesen Krieg protestiert wird", sagt Jens Steinigen der DW. Der ehemalige Olympiateilnehmer im Biathlon ist Initiator der Initiative "Athletes for Ukraine", die sich auf die Fahnen geschrieben hat, Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine zu zeigen. "Ziel des Vereins ist es, alle Athleten und Athletinnen weltweit zu vereinen, um gemeinsam ein Zeichen gegen Krieg und für Frieden und Solidarität zu setzen", sagt Steinigen.
Er selbst ist in der DDR aufgewachsen und sozialisiert worden und sagt: "Ich weiß, was gezielte Desinformation des Staates bewirkt." Dass Sport und Politik getrennt werden könnten, sei der "größte Blödsinn, der uns seit vielen Jahren erzählt wird. Das war noch nie so. Der Sport wurde immer missbraucht, und er hat sich gerne missbrauchen lassen", sagt der heutige Rechtsanwalt.
Steinigens Initiative haben sich neben vielen Unterstützern sehr schnell auch einige prominente Sportler wie die Olympiasieger im Skilanglauf Tobias Angerer, Felix Loch im Rodeln oder Eiskunstläuferin Aljona Savchenko angeschlossen. Schnell hätten sich auch die Aufgaben ausgeweitet, "Athletes for Ukraine" organisiert neben Geld- und Sachspenden Hilfstransporte an die ukrainische Grenze. "Außerdem versuchen wir die Flüchtlingskinder in den Vereinssport zu integrieren und mit unseren Kontakten Sportlern Trainingsmöglichkeiten zu verschaffen", sagt Steinigen. "Das sind Dinge, die spontan dazugekommen sind", sagt Steinigen.
Anna Burchok und ihre Mutter Olja haben kurzfristig ein neues Zuhause in Leverkusen gefunden und fühlen sich auch sehr wohl in Deutschland. Eines ist für sie allerdings eindeutig: Sie wollen so schnell wie möglich zurück nach Kiew und dabei helfen, die Heimat wieder aufzubauen. So geht es derzeit wohl sehr vielen Menschen aus der Ukraine.