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Politik

Umerziehungspolitik in Xinjiang

Hans Spross
20. Juni 2018

Zum Überwachungssystem, das Peking in der autonomen Region Xinjiang errichtet hat, gehören auch Umerziehungslager für Hunderttausende "Verdächtige". Adrian Zenz erläutert, auf welcher Datenbasis diese Zahlen beruhen.

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CHINA-XINJIANG-UNREST
Bild: Getty Images/AFP/G. Baker

Deutsche Welle: Was sind die wichtigsten Quellen, aus denen Sie Erkenntnisse über die Umerziehungslager in Xinjiang gewonnen haben?

Adrian Zenz: Die wichtigsten Quellen sind Regierungsberichte, die oft in den lokalen Medien veröffentlicht werden, auch online. Dazu gehören dann auch offizielle Regierungsdokumente wie zum Beispiel Berichte zu Besuchen höherer Beamten, oder auch Budgetberichte, wo Ausgaben zu entsprechenden Anlagen verzeichnet sind.

Wird dort auch deutlich gesagt: Wir planen hier ein Umerziehungslager?

Ganz genau! Es wird sogar sehr detailliert darauf eingegangen, wie die Lagersysteme funktionieren. Zum Beispiel, dass es sich um Lager auf drei Verwaltungsebenen handelt, nämlich Dorf, Township und Regierungsbezirk. Oder dass zum Beispiel die Insassen nach einem Vier-Ebenen-Schema behandelt werden, nämlich nach der Härte ihres Falles oder ihrem Problemgrad. Das ist ein System, das sich weiterentwickelt hat. Diese Unterscheidung in Gruppierungen war vor allem in den frühen Stadien 2014 bis 2016  wichtig. 2017 gab es dann diese Bewegung der massenhaften Internierung, bei der auf dieses Differenzierungsschema nicht mehr eingegangen wird. Man kann also anhand dieser Dokumente relativ gut nachvollziehen, wie sich das System entwickelt hat.

Das sind Dokumente,  die sich nicht an eine größere Öffentlichkeit und schon gar nicht ausländische Öffentlichkeit richten, oder?

Sie sind schon für den Konsum der einheimischen Bevölkerung gedacht. Oder die Lokalregierung will demonstrieren, auch anderen Regierungsstellen gegenüber, was sie gegen den Terrorismus tut, um sich da gut ins Bild zu setzen. Diese Art von Berichten ist dann zunehmend seltener geworden, als es dann wirklich dramatisch zur Sache ging und damit auch eine größere Geheimhaltung einherging.

Aber mit die wichtigste Datenquelle seit 2017 sind vor allem die Stellenausschreibungen für Dienste in solchen Einrichtungen, also zum Beispiel Fahrer oder Lehrer oder Sicherheitskräfte, sowie Ausbildungskräfte für Trainingslager mit relativ verdächtigen Stellenprofilen, die man dann mit anderen Daten abgleichen kann. Das heißt, es wird gar keine entsprechende Erfahrung oder ein Bildungsabschluss vorausgesetzt. Teilweise wird auch einfach gesagt, es wird jemand zur Arbeit in einem Umerziehungslager gesucht.

Richten sich solche Ausschreibungen an Han-Chinesen oder an Uiguren?

Das ist nicht konsistent, eine ethnische Begrenzung ist immer möglich, wird aber oft nicht vorgenommen. In einem Beispiel, in einem fast ausschließlich uigurischen Bezirk, durften sich nur Han-Chinesen bewerben, aber in anderen Fällen war es nicht begrenzt oder es wurden aus beiden ethnischen Gruppen Bewerber gesucht.

Die andere ganz wichtige Datenquelle sind Projektausschreibungen, wo auch relativ detailliert beschrieben wird, dass ein politisches Umerziehungslager gebaut werden soll. Dafür wird dann beispielsweise eine hohe Mauer und Stacheldraht benötigt, spezielle Fenster, Sicherheitskameras und -systeme, soundso viel Quadratmeter Schlafraum und Küche. Oder aber bestehende Gebäude werden erweitert. Man sieht die Tendenz, dass Gebäude, die vorher wahrscheinlich eher tagsüber benutzt wurden, jetzt ausgeweitet werden, so dass dort eine größere Zahl von Leuten über längeren Zeitraum "wohnen" kann.  Also das Toilettensystem wird ausgebaut, eine Küche kommt dazu, ein Schlafraum und so weiter.


Das sind also Verwaltungsdokumente. Gibt es auch Quellen, die etwas über den "Erfolg" dieser Maßnahmen aussagen?

Ja, es sind vor allem Dokumente im Zeitraum 2014 bis 2016, die relativ unverblümt das Umerziehungssystem anpreisen, was damals gerade aufgestellt wurde und auch noch stark auf gewisse Fokus- oder Problempersonen begrenzt war. Da wurden auch Erfolgsquoten veröffentlicht, beispielsweise in einem akademischen Forschungsbericht der Parteischule von Urumqi (Hauptstadt der Autonomen Region Xinjiang, Anm. d. Red.).  Der spricht ganz offen von Erfolgsquoten auf Basis einer Umfrage unter knapp 600 Umerziehungsinsassen, vorher und nachher. Soundso viel Prozent haben dann nachträglich gesagt: Ja, wir haben erkannt, dass wir Rechtsverstöße gemacht haben. Wir würden jetzt Bekannte von uns anprangern oder anzeigen, wenn wir sehen, dass sie das tun und so weiter.

Aber Analysen und Erfolgsmeldungen dieser Art verschwinden jetzt zunehmend, während die Projektausschreibungen zugenommen haben. Die gab es vorher nicht wirklich. Das ist ein neueres System, das auch im Zuge der Privatisierung und der Transparenz des öffentlichen Systems chinaweit propagiert wird.

Wie belastbar sind die Zahlen, die über die Anzahl der in diesen Umerziehungslager Einsitzenden kursieren?  

Ich gebe in meinem Bericht eine Bandbreite an. Das untere Band liegt bei 200.000. Das ist eine konservative Zahl. Wir können das nicht konkret beweisen. Aber wenn man sich die Datenfülle über diese Infrastruktur, auch die Aussagen über das mehrschichtige System, die Stellenausschreibungen und so weiter anschaut, ist das ein relativ belastbarer unterer Wert.

China Xinjiang Uiguren
(Archiv) Anti-Terror-Übung in Xinjiang mit einheimischen UigurenBild: Reuters/T. Peter
China Xinjiang Uiguren
Videoüberwachung wird in der Xinjianger Altstadt Kashgar installiertBild: Reuters/T. Peter
Adrian Zenz
Experte für Chinas Minderheitenpolitik Adrian Zenz hat eine Vielzahl chinesischer Parteiunterlagen ausgewertet Bild: AWM/H. Stellmann

Hinzu kommen Aussagen von einheimischen Amtsträgern und Polizeibehörden gegenüber Radio Free Asia, auch Zeugenaussagen, zum Beispiel, dass in einem Lager 5000 bis 6000 Leute sind und wie eng die Leute da schlafen. Wir haben teilweise auch Größenangaben über diese Projektausschreibung in Quadratmetern, auch zu Schlafräumen.

Dann gibt es ein Dokument von einer einheimischen Polizeibehörde - vorgeblich, das lässt sich nicht verifizieren - das an ausländische Uiguren-Gruppen durchgesickert ist und von Newsweek Japan (Die japanische Ausgabe vom US-Magazin Newsweek, Anm. d. Red.) aufgegriffen wurde. In dem Dokument ist von 892.000 Personen die Rede, bezieht sich aber nicht auf ganz Xinjiang, sondern lässt einige der größeren Städte und auch Urumqi aus. Und wenn man das mal hochrechnet auf ganz Xinjiang, kommt man auf 1,06 Millionen betroffene Personen.

Bezogen auf die erwachsene muslimische Gesamtbevölkerung von Xinjiang würde sich die Zahl recht gut mit einigen Aussagen von Radio Free Asia zu vorgegebenen Quoten decken, die die Regierungen in einigen Regionen einhalten sollen, wonach sie soundso viel Prozent der Bevölkerung in Umerziehungsmaßnahmen stecken sollen. Also das ist eine nicht aus der Welt gegriffene Zahl, das ist im Bereich des Möglichen.

Was weiß man über die Verweildauer in diesen Umerziehungslagern?

Dazu gibt es recht detaillierte Aussagen im Zeitraum 2014/15. Da hatte man das bereits erwähnte Vier-Gruppen-System von A bis D praktiziert. Die hartnäckigsten Fälle mussten für 20 Tage in den Lagern bleiben, und die in der schwächsten Kategorie vielleicht für vier bis fünf Tage.

Wir sprechen also nicht über Internierung über Monate oder Jahren hinweg?

Früher nicht, aber das hat sich jetzt völlig geändert. Nicht nur der Prozentsatz der betroffenen Bevölkerung hat unter dem amtierenden Parteisekretär von Xinjiang, Chen Quanguo, seit Frühjahr 2017 dramatisch zugenommen, was wir auch in den Projektausschreibungen sehen, die extrem in die Höhe gehen, sondern auch die Länge der Lageraufenthalte. Was das betrifft, verlassen wir uns auf Zeugenaussagen und andere Aussagen. Dazu gibt es kein offizielles Material.

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(Archiv) Omir Bekali war in einem der Umerziehungslager. Später ist er ins Nachbarland Kasachstan geflüchtetBild: picture-alliance/AP Photo/N. H. Guan

Demnach ist es wohl sehr selten, dass jemand unter drei Monaten wieder herauskommt. Das waren früher mal zwei Wochen, dann waren es sechs Wochen. Ich habe von etlichen Fällen gehört, wo jemand schon über ein Jahr drin ist. Und man hört und sieht nichts mehr von ihm. Diese früheren Begrenzungen der Einweisungen sind hinfällig geworden.

Wie ist die Rolle des von Ihnen erwähnten Parteichefs Chen Quanguo einzuschätzen?

Das ist ein echter Hardliner, der von 2011 bis 2016 Parteisekretär in Tibet war und da einen richtigen Polizeistaat eingerichtet hat. Er hat in Xinjiang sofort radikal ganz ähnliche und noch dramatischere Maßnahmen durchgezogen. Die Polizeirekrutierung ist in die Höhe geschnellt und alle möglichen sozialen Kontrollmaßnahmen wurden eingeführt: Hausbesuche durch Regierungsbeamte und so weiter. Aber das mit dem Umerziehungssystem ist jetzt wirklich der Höhepunkt. Das gibt es zwar auch in tibetischen Regionen, auch dazu gibt es auch Berichte, aber das ist überhaupt kein Vergleich im Ausmaß.

Wie bewerten Sie die Linie der chinesischen Regierung, zu diesen ganzen Erkenntnissen einfach gar nichts zu sagen?

Interessant ist, dass es zu der Welle der Polizeirekrutierung einmal einen Artikel in der "Global Times" (Eine nationalistische Tageszeitung aus Peking. Anm. d. Red.) gab, wo das mit der Bedrohung durch den Terrorismus gerechtfertigt wurde. Aber zu den Umerziehungslagern gibt es eigentlich keine Antwort. Und das deutet auch darauf hin, wie schwierig dieses Thema ist, gerade unter dem Gesichtspunkt, dass China das politische Umerziehungssystem durch Arbeit, das von Mao Zedong eingerichtet wurde, 2013 offiziell abgeschafft hat. Das ist also ein eher wunder Punkt, denn für die Belt and Road-Initiative, die neue Seidenstraße, ist die Region ja zentral, und da will man natürlich auch keine negative Presse.

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(Archiv) Starke Polizeipräsenz vor einer Moschee in XinjiangBild: Getty Images

Die Chinesen finden wohl nicht wirklich einen Ansatz, um dieses System zu rechtfertigen, weil es doch über die normale Terrorabwehr weit hinausgeht. Auch im Westen haben wir ja Sicherheits- und Überwachungssysteme, Spezialeinheiten und so weiter. Aber Umerziehungslager, die ohne gerichtliche Prozesse ablaufen, sind schon eine andere Hausnummer.

Adrian Zenz Ph.D. ist Experte für chinesische Minderheitenpolitik auf lokaler Ebene in Tibet und Xinjiang. Er ist Dozent an der European School of Culture and Theology.

Das Interview führte Hans Spross.